Verwandtschaft: Rätselhafte Heimat unserer Urahnen
Seit 200 Jahren steht fest: Wir Europäer sind Verwandte der Inder. Wo die ersten Ahnen von uns Indogermanen lebten, bleibt allerdings bis heute unklar: Weder Sprachgeschichte noch Genanalysen liefern allseits akzeptierte Antworten.
Am Anfang der "Indogermanen" stand die Sprachwissenschaft: Bereits im Jahr 1808 hatte der deutsche Philosoph Friedrich Schlegel auffällige Gemeinsamkeiten zwischen Vokabular und Grammatik der altindischen Sprache Sanskrit und dem Griechischen, Lateinischen und Deutschen festgestellt. Für ihn galt Sanskrit als Ursprache, aus der sich alle anderen Sprachen ableiten. Kurze Zeit später sprang dem Philosophen der Sprachwissenschaftler und Indologe Sir William Jones bei: Auch er erkannte eine Verwandtschaft von Sanskrit und den klassischen Sprachen Europas. Anders als Schlegel ging Jones davon aus, dass die Wurzeln dieser Sprachen in einer gemeinsamen Ursprache liegen, die heute nicht mehr existiert. Damit wurde er zu einem wichtigen Wegbereiter einer neuen Disziplin: der Indogermanistik. Und nebenbei stehen beide am Anfang eines Streits, der immer noch nicht entschieden ist.
Von seinen Anfängen bis heute sieht sich der Forschungszweig mit einer naheliegenden Frage konfrontiert: Wer waren die ersten Sprecher einer indogermanischen Ursprache – und woher kamen sie? Ethnolinguisten hatten auf der Suche nach den Proto-Indogermanen die Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Antworten und einer differenzierten Lösung: Die Proto-Indogermanen könnten entweder aus "Germanien", also Europa, oder aber aus Indien gekommen sein. Oder – und davon gehen heute viele Wissenschaftler aus – die Proto-Indogermanen entstanden anderswo, trennten sich zu einem Zeitpunkt der Geschichte und wanderten in verschiedene Richtungen. Hypothesen darüber, wo genau die nicht indische und nicht europäische Heimat des Urvolks gelegen haben könnte, sind heute so mannigfaltig wie die indogermanische Sprachfamilie selbst.
Wiege der Zivilisation?
Schlegel ging vor 200 Jahren davon aus, dass der Nordwesten Indiens der Ursprung aller Völker sei. Seine Begeisterung für das exotische Land teilten im späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch andere: Der indische Subkontinent galt bei vielen Gelehrten als die Wiege der Zivilisation. Während der britischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert feilten westliche Indologen und christliche Missionare dann aber zunehmend an einer Geschichtsschreibung, nach der die Inder selbst Nachkommen unterschiedlicher, teilweise eingewanderter Völker seien. Ihre Zivilisation entstand demnach durch Vermischung von eingewanderten Volksgruppen wie den Ariern mit einheimischen, nicht indoarischen Ureinwohnern.
Der Begriff "Arier" tauchte dann wenig später auch bei dem englischen Autor Houston Stewart Chamberlain auf: Während Gobineau die Menschheit in Rassen gliederte, die er hierarchisch in einer Wertigkeitspyramide mit einer nordisch-germanischen Urgruppe an der Spitze einordnete, brachte Chamberlain zusätzlich antisemitisches Gedankengut in diese Rassentheorie. Von Chamberlain und Gobineau war es dann nicht mehr weit zu der im Dritten Reich postulierten indogermanischen Herrenrasse mit ihrer vermeintlichen Mission, alle nicht arischen Völker zu unterwerfen. Bis heute wirkt die Propaganda der Nationalsozialisten in allen, die die Herkunft der Arier im nördlichen Europa vermuten. Eine wissenschaftliche Grundlage fehlt dieser kruden Abstammungslehre allerdings seit jeher.
Tatsächlich belegt aber ist die Selbstbezeichnung als Arier nur aus dem Iran und Indien. Denn der historisch vorbelastete Begriff stammt ursprünglich aus dem Sanskrit (arya) und bedeutet "der Edle". Im Rig-Veda, dem ältesten Teil der vedischen Schriften Indiens, wird das Wort in Bezug auf die rituelle Reinheit eines Menschen verwendet. Mit Abstammung oder gar Rassenzugehörigkeit hat es per se nichts zu tun: "Der Arierbegriff ist innerhalb der Wissenschaft inhaltlich relativ diffus und kann bis heute unterschiedlichen Inhalts sein – je nachdem, ob er auf sprachwissenschaftliche, kulturelle, archäologische, historische oder religiöse Sachverhalte bezogen wird", erklärt Maria Schetelich von der Universität Leipzig.
Invasion versus Emigration
Heute vertreten die meisten westlichen Wissenschaftler die Theorie der arischen Invasion des indischen Subkontinents. Demnach sei die Gegend um das Kaspische Meer die Urheimat der Indoarier. Von dort sind sie in mehreren Wellen und über viele Jahrhunderte ausgezogen, um nicht nur den europäischen Kontinent zu besiedeln, sondern auch den indischen Subkontinent. Dort stießen die Zuzügler auf die indigenen dravidischen Urvölker, die sie sich unterworfen haben. "Doch bis heute gilt die Theorie der Einwanderung als nicht bewiesen", kommentiert Edwin Bryant von der Rutgers University in New Brunswick diese weit verbreitete Abstammungstheorie der Indogermanen.
Seit einigen Jahren versuchen auch Genetiker dem Rätsel vom Ursprung der Indoarier auf die Spur zu kommen. Doch auch ihr Lager ist gespalten: Während sich auf der einen Seite Wissenschaftler darum bemühen, die arische Invasion auf dem indischen Subkontinent empirisch zu belegen, laufen andererseits mindestens ebenso eifrige Versuche, den indischen Ursprung der indogermanischen Kultur zu beweisen. So erscheinen hin und wieder Fachartikel, die beweisen, dass die Vorfahren der Indoarier nicht aus Indien stammen, sondern in das Land eingewandert sind.
Emotionale Schranken
Die Debatte zur arischen Migration ist stark von Emotionen geprägt und das Forschungsgebiet mit Ideologie und Politik verknüpft. Fast jede Diskussion über die Frühgeschichte mündet heute beinahe automatisch in einen Konflikt um soziale und politische Machtinteressen. "An keinem anderen Thema der Indogermanen-Forschung entzündeten sich wegen seiner politischen und allgemein weltanschaulichen Relevanz so viele Kontroversen wie an diesem", fasst Schetelich die Debatte um den Ursprung des indogermanischen Urvolks zusammen.
"Es gibt heute nach wie vor zwei fest verwurzelte Lager, zwischen denen es kaum Gespräche gibt", bedauert Bryant. Dabei wäre eine solche Kommunikation dringend notwendig – um nicht nur ein ausgewogenes Bild von der Frühgeschichte des indischen Subkontinents zu erhalten, sondern auch von der Urheimat indogermanischer Völker.
Von seinen Anfängen bis heute sieht sich der Forschungszweig mit einer naheliegenden Frage konfrontiert: Wer waren die ersten Sprecher einer indogermanischen Ursprache – und woher kamen sie? Ethnolinguisten hatten auf der Suche nach den Proto-Indogermanen die Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Antworten und einer differenzierten Lösung: Die Proto-Indogermanen könnten entweder aus "Germanien", also Europa, oder aber aus Indien gekommen sein. Oder – und davon gehen heute viele Wissenschaftler aus – die Proto-Indogermanen entstanden anderswo, trennten sich zu einem Zeitpunkt der Geschichte und wanderten in verschiedene Richtungen. Hypothesen darüber, wo genau die nicht indische und nicht europäische Heimat des Urvolks gelegen haben könnte, sind heute so mannigfaltig wie die indogermanische Sprachfamilie selbst.
Wiege der Zivilisation?
Schlegel ging vor 200 Jahren davon aus, dass der Nordwesten Indiens der Ursprung aller Völker sei. Seine Begeisterung für das exotische Land teilten im späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts auch andere: Der indische Subkontinent galt bei vielen Gelehrten als die Wiege der Zivilisation. Während der britischen Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert feilten westliche Indologen und christliche Missionare dann aber zunehmend an einer Geschichtsschreibung, nach der die Inder selbst Nachkommen unterschiedlicher, teilweise eingewanderter Völker seien. Ihre Zivilisation entstand demnach durch Vermischung von eingewanderten Volksgruppen wie den Ariern mit einheimischen, nicht indoarischen Ureinwohnern.
Spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam dann in Mode, die Idee von Indien als Ursprungsland aller Völker und Sprachen einzumotten. Immer höher im Kurs stiegen gleichzeitig mehr oder weniger abstruse Gedankengänge, teilweise gar mit rassistischem Anstrich. Im Jahr 1853 war der französische Diplomat Joseph Arthur de Gobineau der Erste gewesen, dem die Idee einer "arischen Rasse" in den Sinn kam: Die Arier seien, so seine Vorstellung, umtriebige Krieger gewesen, die ursprünglich aus nördlichen Klimazonen stammten, südwärts abwanderten und schließlich irgendwann auch Indien erreichten.
Der Begriff "Arier" tauchte dann wenig später auch bei dem englischen Autor Houston Stewart Chamberlain auf: Während Gobineau die Menschheit in Rassen gliederte, die er hierarchisch in einer Wertigkeitspyramide mit einer nordisch-germanischen Urgruppe an der Spitze einordnete, brachte Chamberlain zusätzlich antisemitisches Gedankengut in diese Rassentheorie. Von Chamberlain und Gobineau war es dann nicht mehr weit zu der im Dritten Reich postulierten indogermanischen Herrenrasse mit ihrer vermeintlichen Mission, alle nicht arischen Völker zu unterwerfen. Bis heute wirkt die Propaganda der Nationalsozialisten in allen, die die Herkunft der Arier im nördlichen Europa vermuten. Eine wissenschaftliche Grundlage fehlt dieser kruden Abstammungslehre allerdings seit jeher.
Tatsächlich belegt aber ist die Selbstbezeichnung als Arier nur aus dem Iran und Indien. Denn der historisch vorbelastete Begriff stammt ursprünglich aus dem Sanskrit (arya) und bedeutet "der Edle". Im Rig-Veda, dem ältesten Teil der vedischen Schriften Indiens, wird das Wort in Bezug auf die rituelle Reinheit eines Menschen verwendet. Mit Abstammung oder gar Rassenzugehörigkeit hat es per se nichts zu tun: "Der Arierbegriff ist innerhalb der Wissenschaft inhaltlich relativ diffus und kann bis heute unterschiedlichen Inhalts sein – je nachdem, ob er auf sprachwissenschaftliche, kulturelle, archäologische, historische oder religiöse Sachverhalte bezogen wird", erklärt Maria Schetelich von der Universität Leipzig.
Invasion versus Emigration
Heute vertreten die meisten westlichen Wissenschaftler die Theorie der arischen Invasion des indischen Subkontinents. Demnach sei die Gegend um das Kaspische Meer die Urheimat der Indoarier. Von dort sind sie in mehreren Wellen und über viele Jahrhunderte ausgezogen, um nicht nur den europäischen Kontinent zu besiedeln, sondern auch den indischen Subkontinent. Dort stießen die Zuzügler auf die indigenen dravidischen Urvölker, die sie sich unterworfen haben. "Doch bis heute gilt die Theorie der Einwanderung als nicht bewiesen", kommentiert Edwin Bryant von der Rutgers University in New Brunswick diese weit verbreitete Abstammungstheorie der Indogermanen.
"Zwischen den beiden fest verwurzelten Lagern gibt es kaum Gespräche"
(Edwin Bryant)
Die Theorie der arischen Invasion hat mindestens so viele Gegner wie Befürworter: Vor allem in Indien sprechen sich sowohl Wissenschaftler als auch Politiker gegen den fremdländischen Ursprung der indoarisch sprechenden Bevölkerung auf dem Subkontinent aus. Nach ihnen soll der Ursprung der indogermanischen Kultur in Indien liegen. Vertreter der "Indigenous Aryan Theory" kritisieren die Theorie der arischen Eroberung Südasiens als ein Produkt der kolonialen Wissenschaft. Sie stellen vor allem die Motive der europäischen Forscher des 19. Jahrhunderts in Frage. Aus ihrer Sicht ist die arische Invasionstheorie eine konstruierte Version von Geschichte und Tradition, die kolonialen und missionarischen Interessen diente. (Edwin Bryant)
Seit einigen Jahren versuchen auch Genetiker dem Rätsel vom Ursprung der Indoarier auf die Spur zu kommen. Doch auch ihr Lager ist gespalten: Während sich auf der einen Seite Wissenschaftler darum bemühen, die arische Invasion auf dem indischen Subkontinent empirisch zu belegen, laufen andererseits mindestens ebenso eifrige Versuche, den indischen Ursprung der indogermanischen Kultur zu beweisen. So erscheinen hin und wieder Fachartikel, die beweisen, dass die Vorfahren der Indoarier nicht aus Indien stammen, sondern in das Land eingewandert sind.
Demgegenüber stehen Forscher wie Sanghamitra Sahoo vom National DNA Analysis Centre in Kalkutta, der mit seinem Team anhand von groß angelegten Vergleichen des männlichen Geschlechtschromosoms unterschiedlicher Populationen herausgefunden haben will, dass sich die heutigen hinduistischen Inder aus den ursprünglichen Stämmen ihrer Heimat entwickelten. Eine großflächige Einwanderung von Völkern schließt er aus. Umgekehrt kam es dagegen nach Ansicht des Forschers zu einer nordwärts gerichteten Wanderung von Indern aus dem Punjab nach Zentralasien.
Emotionale Schranken
Die Debatte zur arischen Migration ist stark von Emotionen geprägt und das Forschungsgebiet mit Ideologie und Politik verknüpft. Fast jede Diskussion über die Frühgeschichte mündet heute beinahe automatisch in einen Konflikt um soziale und politische Machtinteressen. "An keinem anderen Thema der Indogermanen-Forschung entzündeten sich wegen seiner politischen und allgemein weltanschaulichen Relevanz so viele Kontroversen wie an diesem", fasst Schetelich die Debatte um den Ursprung des indogermanischen Urvolks zusammen.
"Es gibt heute nach wie vor zwei fest verwurzelte Lager, zwischen denen es kaum Gespräche gibt", bedauert Bryant. Dabei wäre eine solche Kommunikation dringend notwendig – um nicht nur ein ausgewogenes Bild von der Frühgeschichte des indischen Subkontinents zu erhalten, sondern auch von der Urheimat indogermanischer Völker.
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