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Traumata: In den Händen des IS

Amina* ist 14 Jahre alt, als Kämpfer des "Islamischen Staats" ihre Heimatstadt im Nordirak überfallen. Das Mädchen wird verschleppt und vom selbst ernannten Kalifen al-Baghdadi missbraucht - bis ihr die Flucht gelingt. Das Protokoll einer bewegenden Geschichte.
Zerstörtes Sindjar im Nordirak

Anmerkung der Redaktion: Achtung, dieser Text enthält Schilderungen von Gewalttaten!

Im November 2014 nahm mich mein Onkel im kurdischen Teil des Irak in seiner Familie auf. Gemeinsam verfolgten wir nach dem Abendessen die Nachrichten im Fernsehen. Als hätte ich einen Stromschlag erhalten, zuckte ich zurück und stammelte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutend: "Bei diesem Mann war ich auch!" Damals war er anders gekleidet gewesen, trug nicht dieses schwarze, lange Gewand und den schwarzen Turban. Unverkennbar jedoch waren das breite Gesicht wie das eines Bauern und der schwarze Vollbart mit weißen Strähnen. Mein Onkel wurde kreidebleich.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus: "Die Psychologie des IS" von Jan Ilhan Kizilhan und Alexandra Cavelius, erschienen im Europa Verlag.

Plötzlich überschlugen sich die Ereignisse. Der US-Geheimdienst wollte mit mir sprechen. Kurze Zeit später hat man mich nach Deutschland geschafft. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, dass es Abu Bakr al-Baghdadi gewesen war, der mich als sein persönliches Eigentum betrachtet hatte. Zweieinhalb Monate war ich in den Händen des selbst ernannten Kalifen, des Anführers der Terrormiliz Islamischer Staat, des meistgesuchten Terroristen der Welt. Ich wusste nicht, dass die USA auf ihn ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt hatte.

Ich bin Jesidin, in einer aufgeschlossenen und modernen Familie aufgewachsen. Wie hätte ich mir da ausmalen sollen, dass im Irak von einem Tag auf den anderen wieder das Mittelalter herrscht? Mit Sklaverei und Menschen, die wie Fliegen auf der Straße sterben. Bis heute konnte mir niemand sagen, ob meine Eltern und Geschwister noch leben.

Das alles passierte so überraschend, dass ich es immer noch nicht ganz verstanden habe. Deshalb erzähle ich im Gespräch oft in der Gegenwart und sage: "Sindjar ist eine Stadt, in der etwa 30 000 Menschen leben." Dabei gibt es die Stadt und die Einwohner nicht mehr. In Sindjar sind nur Ruinen, unterirdische Tunnel und überall Minen, sogar in Kopfkissen und unter Waschbecken, übrig geblieben.

Bis zum 3. August 2014, dem Tag des Überfalls, ging es unserer Familie gut. Ich besuchte die 10. Klasse, hatte einigermaßen gute Noten und viele Freunde. Ich beherrsche Arabisch, Kurdisch sowie ein bisschen Englisch. Wir lebten in einem großen Haus mit einem großen Vorgarten, den Vater mit Hingabe gepflegt hat.

Meine Mutter hat uns Kindern das Gefühl gegeben, dass wir das größte Geschenk auf der Welt seien. Vater, der als Lehrer arbeitet, hat dagegen öfter mal den Zeigefinger mahnend erhoben: "Ihr müsst viel lernen, damit ihr später einen guten Beruf erlernt und von niemandem abhängig werdet." Deswegen hatte ich mir fest vorgenommen, nach dem Abitur gleich an die Universität zu gehen.

Nachdem im Juli 2014 die IS-Milizen Mossul eingenommen hatten, herrschte große Aufregung in unserer Stadt. Vater hat uns beruhigt. "Diese Kämpfer wollen nichts von uns Jesiden. Sie wollen nach Bagdad, um die schiitische Regierung zu stürzen." Dennoch lag Mutter ihm dauernd in den Ohren, dass wir ins Dorf zu unseren Verwandten fahren sollten. "Dort sind wir besser geschützt", glaubte sie.

Der IS im Sindjar-Gebiet

Am 3. August, wir wollten nach dem Frühstück zur Schule aufbrechen, hörten wir lautes Geschrei auf den Straßen. Vater ist hinausgegangen und hat mit den Nachbarn gesprochen, die wiederum gehört hatten, dass der IS nun auch im Sindjar-Gebiet einmarschiert sei. "Ihr bleibt im Haus", verlangte er daraufhin von uns. Während Vater mit den unterschiedlichsten Leuten telefonierte, saß die ganze Familie, sehr unruhig und sehr nervös, zusammen im Wohnzimmer. Vater hielt noch das Handy in der Hand, als er uns plötzlich zurief: "Schnell, steigt alle ins Auto! Wir müssen versuchen, die Berge zu erreichen." Er habe mitbekommen, dass die IS-Milizen auch Jesiden verhafteten. Ohne zu zögern, haben wir Schuhe und Jacken angezogen. Mutter hat Gold und Geld an ihrem Körper versteckt. Wir sechs Geschwister haben uns irgendwie auf der Rückbank übereinandergestapelt. Kurz vor dem Ausgang der Stadt riegelten schwarz gekleidete Männer mit langen Bärten die Straße ab. "Verdammt!", entfuhr es Vater. Er stoppte, stieg aus und versuchte, sich ruhig mit diesen IS-Kämpfern zu verständigen. "Wir sollen zurück nach Hause fahren und dort warten, bis sie kommen. Sie haben versprochen, dass uns nichts passieren wird."

Die junge Jesidin Amina war zweieinhalb Monate lang in der Gewalt von IS-Milizen | "Ich wollte nicht mehr leben, und vor dem Tod hatte ich keine Angst mehr."

Zu Hause haben wir sofort alle Fenster geschlossen, uns im Dunkeln auf das Sofa gesetzt und die Nachrichten im Fernsehen eingeschaltet. Ständig hat Vaters Handy geklingelt. "Flieht! Lauft um euer Leben!" All unsere Verwandten waren in heller Aufregung. Vater aber wollte nicht riskieren, dass die IS-Kämpfer auf uns schossen. Weinend haben wir uns alle gegenseitig umarmt. Vater hielt uns fest umfasst, aber zum ersten Mal habe ich ihn so hoffnungslos gesehen. Meine Familie war für mich immer ein Schutz gegen das Böse.

Bis zum frühen Morgen lief der Fernseher. Keiner von uns hat ein Auge zugemacht. Plötzlich schreckte uns Lärm hoch. Die IS-Kämpfer durchsuchten ein Haus nach dem anderen und trommelten mit den Fäusten gegen die Tür. Vater machte sofort auf. Die Bärtigen trieben ihn mit ihren Kalaschnikows vor sich her, verlangten nach unseren Ausweisen und schrieben alle unsere Namen nacheinander auf. "Ihr wartet hier! Wir kommen gleich wieder", schnauzten sie.

Zwei Stunden verstrichen, bis erneut eine Gruppe mit IS-Kämpfern unser Wohnzimmer belagerte. "Packt ein paar Sachen und kommt mit!" Sie verlangten unsere Wertsachen und drohten, uns zu töten, wenn sie danach noch etwas bei uns finden würden. Mutter hat so große Angst bekommen, dass sie unser gesamtes Geld und Gold unter ihrem Rock und aus ihren Ärmeln hervorkramte und ihnen aushändigte. Im Anschluss daran verfrachteten sie uns mit vielen anderen Stadtbewohnern ins Verwaltungsgebäude. Dort sollten wir bis zum nächsten Morgen bleiben. Mitten in der Nacht aber polterten bereits Bewaffnete herein, um die ersten Gefangenen wegzuschaffen.

Am nächsten Tag haben sie uns mit anderen Einwohnern in einen Bus in Richtung Mossul gesetzt, der zweitgrößten Stadt im Irak, vielleicht 120 Kilometer entfernt. Im Vorort Badusch, vor einem der größten Gefängnisse im Land, mussten wir wieder aussteigen. Bis es dämmerte, verbrachten wir unsere letzten gemeinsamen Stunden in einer Zelle. Danach habe ich meinen Vater, meine Brüder und meine Mutter nie wiedergesehen. Noch heute sehe ich vor mir, wie meine Eltern und Brüder das Gebäude verlassen. Mutter hat immer wieder zu uns zurückgeblickt. Und ich höre wieder, wie meine zwölfjährige Schwester Leyla* und ich ihnen hinterherschreien.

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In der Zelle befanden sich noch etwa 60 bis 70 Mädchen, alle zwischen 10 und 16 Jahre alt. Sie stammten aus verschiedenen Dörfern im Sindjar-Gebiet. Untereinander haben wir kaum gesprochen. Von draußen hörten wir Schüsse und Schreie. Solche Schreie hatte ich vorher noch nie gehört.

Wieder kamen sie in der Nacht. "Aufstehen!" Sie haben uns mit ihren Stiefeln getreten, an den Zöpfen gerissen und vorwärts geschubst. Draußen wartete bereits ein Bus, der nach etwa 15 Kilometern in Mossul hielt. Wochenlang haben sie uns Mädchen in einer Villa gefangen gehalten, in der vor Kurzem offenbar noch Christen gelebt hatten. In die Mauern waren viele Kreuze eingemeißelt, und die IS-Kämpfer haben dauernd versucht, diese Zeichen mit Hämmern und anderen Werkzeugen herauszukratzen.

Jeden Tag schlurften irgendwelche Männer vorbei und haben sich Mädchen ausgesucht. Wer sich gewehrt hat, wurde geschlagen. Am 18. Tag verlangten zwei IS-Kämpfer nach meiner kleinen Schwester. An meinem Bauch spürte ich den Herzschlag meiner Schwester, so stark hielten wir uns umschlungen, und gemeinsam flehten wir: "Bitte, nehmt uns wenigstens zusammen mit!" Mich aber hat der eine festgehalten, während der andere mir meine Schwester aus den Armen gerissen und sie weggetragen hat. Leyla hat fürchterlich um sich geschlagen, gebrüllt, sich aufgebäumt, aber es half nichts. Und so saß ich allein an der Wand. Ohne meine Schwester. Ohne meine Familie. Mutterseelenallein. Ich weinte und weinte. Einige der Mädchen kamen zu mir, wiegten mich im Arm, summten ein Lied, so wie es unsere Mütter manchmal getan hatten. Aber ich konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Ich fühlte mich so verloren. Und ich wünschte mir so sehr, dass morgen alles wieder vorbei wäre.

Durch die Wüste nach Rakka

Am nächsten Tag tauchte ein Emir mit seinem Gefolge auf. Man erkannte gleich, welche Macht er besaß, weil sich alle Wachen vor ihm verbeugten und mit eingezogenen Köpfen zurückwichen. Mit dem Finger auf mich deutend, hat er beschlossen: "Die bleibt erst einmal hier, die nehme ich woandershin mit." Eilfertig nickten alle Wachen und ließen mich ab sofort mit ihren Gemeinheiten in Ruhe. So vergingen einige Tage, an denen ich mit ansehen musste, wie ein Mädchen nach dem anderen weggeholt wurde. Nachts träumte ich von meiner Schwester, doch als ich nach ihr rufen wollte, hatte ich keine Stimme mehr …

Jener Emir hat zwölf Mädchen und mich über einen langen Weg durch die Wüste nach Rakka, in die Hochburg des IS, transportiert. Vier von uns hat er in einem sehr großen Haus abgesetzt. Überall schoben schwer bewaffnete Milizen ihren Wachdienst. Nach einer Weile brachten weibliche Bedienstete uns etwas zu essen. Wir vier waren völlig ausgehungert. Das Mädchen, das neben mir seinen Reis aß, war 13, ein Jahr jünger als ich, die zweite war gleichaltrig, und die dritte war 15.

In jenem Haus herrschten wie Drachen drei Frauen, vor denen alle die Köpfe eingezogen haben, die Wachen mit ihren Kalaschnikows genauso wie die Hausmädchen mit ihren Besen. Eine dieser Befehlshaberinnen baute sich vor uns im Zimmer auf. Sie wirkte bedrohlich in ihrem langen, dunklen Gewand, die halbe Stirn, Ohren, Hals, Ausschnitt und jedes einzelne Haar fein säuberlich unter dem Hijab versteckt. Mit scharfer Stimme stellte sie klar, dass wir ab sofort Muslimas seien und uns auch wie solche zu verhalten hätten. Als Zeichen unseres Einverständnisses sollten wir dreimal hintereinander sagen: "Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet." Als ich mich weigerte, das nachzusprechen, hat sie mir eine geknallt. Weinend presste ich zwischen den Lippen hervor: "Ich bin Jesidin, ich sag das nicht." Daraufhin hat sie mir erneut ins Gesicht geschlagen. "Ich werde jetzt den Wächter holen", keifte sie, "und der wird dich vergewaltigen, wenn du nicht sofort dieses Bekenntnis nachsprichst." Seltsamerweise war meine Erschütterung über ihr Verhalten größer als meine Furcht. Ehrlich gesagt verstand ich auch nicht genau, was mit Vergewaltigung gemeint war. Ich ahnte zwar, dass es etwas Fürchterliches sein musste, habe aber trotzdem nur den Kopf geschüttelt. Umgehend hat sie nach einem der Bewaffneten im Flur verlangt und ihm angeordnet: "Zieh sie aus! Nimm sie dir!" Da stotterte ich nur noch: "J-j-ja, i-ich sag den Satz."

Am Morgen herrschte in den Fluren großer Tumult, und alle Angestellten waren damit beschäftigt, das Haus von oben bis unten zu polieren. In der Küche klapperten die Töpfe. Nur selten hatte ich gleichzeitig eine solche Aufregung und eine solche Angst unter Leuten gesehen. Einige Stunden später haben wir verstanden, vor wem sich alle fürchteten. Ein Mann trat in unser Zimmer. Braune Augen, olivfarbener Hautton, kräftige Augenbrauen, schwarzer Vollbart. Normale Kleidung, wie die IS-Anhänger sie auch auf der Straße trugen. Eine lange Pluderhose mit einem Hemd, das bis zu den Knien reichte. Er wirkte nicht irgendwie ungewöhnlich oder besonders. "Steht auf!", gebot er streng. Vom Alter her hätte er unser Vater sein können. Verzagt stellten wir uns nebeneinander auf, während er im Zimmer auf und ab lief und vom Islam redete. Wie wichtig der Islam sei und dass die ganze Welt das wisse. Und dass es für uns eine große Ehre bedeute, nun auch zur "Umma", zur Gemeinschaft der Gläubigen, zu gehören. Wenn wir uns an die Vorschriften des Islams hielten, würden wir ein gutes Leben haben. Wir müssten befolgen, was er befehle. Er musterte jede von uns wie ein Lehrer. Doch seine Blicke waren so unangenehm wie sein Lächeln.

"Ich wollte nicht mehr leben, und vor dem Tod hatte ich keine Angst mehr"

Der Reihe nach fragte er unsere Namen ab und wollte von uns bestätigt haben, dass wir Muslimas seien. Wir wagten nicht, uns zu rühren oder gar aufzusehen und schwiegen. Im nächsten Augenblick verpasste er mir einen so harten Schlag ins Gesicht, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf aufschlug. Bevor er hinausging, befahl er einem seiner Untergebenen, mich in das andere Zimmer zu bringen.

Stunde um Stunde verstrich. In der Nacht hörte ich auf einmal, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und ich erkannte diesen Mann, der wieder irgendetwas über Religion redete. Und ich solle keine Angst haben, er werde mich gut behandeln … Doch seine Stimme klang sehr böse dabei.

Gewalt bis zur Bewusstlosigkeit

Bis dahin hatte ich eine neue Predigt über den Islam erwartet, nun aber verlangte er plötzlich: "Zieh dich aus!" Das hat mich zutiefst schockiert. Ich hatte mich noch nie vor einem Mann ausgezogen und habe nur gehaspelt: "Das mache ich nicht!" Mit einem Satz bin ich aus dem Bett gesprungen und habe mich in einer Ecke gegen die Wand gedrängt. Nichts wünschte ich mir mehr, als hinter dieser Mauer zu verschwinden. "Das nützt dir nichts", hat er sehr nachdrücklich gesagt. Ich sei jetzt seine Frau und müsse mich den Regeln entsprechend verhalten. "Entweder ich schlage dich, oder du ziehst dich freiwillig aus." Er schritt auf mich zu und schnappte nach mir, aber ich wehrte ihn mit beiden Händen ab. Die Wucht seines Schlages verdrehte mir den Hals. "Du sollst das machen, was ich sage!", brüllte er und wiederholte ständig, "du weißt wohl nicht, wer ich bin?!" Er hat mir ins Gesicht geschlagen, bis mir die Nase blutete, dann auf den Rücken und den Kopf. Ich bin mehrmals hingefallen und wieder aufgestanden, und am Ende bin ich auf dem Boden liegen geblieben.

Aus Leibeskräften hat er mir die Füße in meine Rippen, meinen Magen, meine Schenkel gerammt. Die Schmerzen habe ich nicht wirklich gespürt. Ich hatte einfach nur schreckliche Angst, dass er gleich mit mir etwas machte, was ich nie im Leben wollte. Das hat regelrechte Panik in mir ausgelöst, dass alles an mir schlotterte. Wieder hagelten seine Schläge auf mich ein. Diesmal aber wurde mir schwarz vor Augen. Für kurze Zeit war ich ohnmächtig. Als ich aufwachte, merkte ich, wie er mich auf dem Boden auszog und meine Kleider wie Papier zerriss. Sein Gewicht erdrückte mich fast. Das alles war so furchtbar. So würdelos. Und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Irgendwann hatte ich nur noch Schmerzen, mein Unterleib brannte wie glühende Kohlen, und ich heulte die ganze Zeit.

Als er fertig war, zog er seine Hose hoch, verschloss die Tür wieder hinter sich und ließ mich so am Boden liegen. Die drei Frauen lachten, als sie mich morgens mit blau verschwollenem Gesicht vorfanden. "Na, wie geht's dir?", lästerten sie. "Jetzt gehörst du zu uns." Sie gaben mir den Rat, dass ich mich nicht länger wehren solle. Ungeduldig klatschten sie in die Hände, "hopphopp", denn ich sollte in der Küche sauber machen. Jeder Schritt tat mir entsetzlich weh. Als ich mich zufällig in einer Scheibe spiegelte, schaute ich weg. Ich schämte mich so sehr.

Am nächsten Tag mussten die anderen Mädchen dasselbe Schicksal wie ich erleiden. Schläge und Vergewaltigung. Seine Ehefrauen wussten genau, dass ihr Mann uns vergewaltigte. Sie haben uns jedes Mal befohlen: "Geht euch waschen! Und wartet auf ihn!" Und ich schrubbte mich ab, bis ich rot und wund war. Am liebsten hätte ich so lange geschrubbt, bis nichts mehr von mir übrig war.

An einem Abend haben wir mitbekommen, dass al-Baghdadi mal wieder mit einer größeren Zahl seiner Wächter fortgefahren war. Da haben wir Mädchen beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Leise wie auf Katzenpfoten sind wir über das Dach geschlichen, haben uns von dort aus auf einen Baum gehangelt und sind mit ein paar Schürfwunden unten im Garten angelangt. Doch plötzlich schälten sich aus der Dunkelheit die Umrisse der Wachen heraus. In der nächsten Sekunde packten sie uns schon an Nacken und Armen. Aus! Vorbei! Alles verloren!

Sie brachten uns in ein anderes Zimmer und fesselten uns dort. Bei Sonnenaufgang flog die Tür auf, und al-Baghdadis Ehefrauen beugten sich so dicht über uns, dass ihre Spucke uns ins Gesicht sprühte. "Ihr seid eine Schande für den Islam! Ihr solltet getötet werden!" Sie wollten damit allerdings noch warten, bis der "Sheikh" zurück sei. Er sollte entscheiden.

Ich habe damit gerechnet zu sterben und versucht, mich innerlich darauf einzustellen. Was würde er mit uns machen? Ganz plötzlich hat mich die Angst vor dem Tod erfasst und mir die Luft genommen. Wie feiner Sand in einem Sandsturm, der das Licht verdunkelt, durch jede Ritze dringt, tief in die Atemwege hinein, die Augen verklebt, jede Orientierung nimmt. Und je schneller man atmet, desto schneller erstickt man daran. Obwohl ich nicht mehr leben wollte, hatte ich dennoch so furchtbare Angst vor dem Sterben.

In den frühen Morgenstunden fegte der Sheikh mit wehendem Bart ins Zimmer. "Warum seid ihr geflohen?", verlangte er zu wissen. "Ihr gehört mir! Ihr seid meine Frauen! Ihr könnt nirgendwo mehr hin!" Ohne es noch länger unterdrücken zu können, schluchzte ich laut auf: "Ich will sterben und nur weg von hier!" Da ist er derart außer sich vor Zorn geraten, dass er auf uns losging wie ein beißwütiger Hund und auf jede von uns eingeschlagen hat. Erst mit Händen, dann mit seinem Gürtel. Die drei Frauen haben es ihm nachgemacht. So viele Hände und Füße, die überall, wo sie uns erwischten, traktiert und gepeitscht haben. Bis wir uns nicht mehr rührten. Al-Baghdadi schnaubte vor Wut. "Ich will sie nicht mehr länger hier haben. Schickt sie weg!" Wir würden schon noch sehen, was wir davon hätten.

Der zweite Fluchtversuch

Am nächsten Tag haben IS-Wachen mich und Zeinat* in die syrische Stadt al-Shadadiya gebracht. In diesem Haus führte eine andere Frau das Kommando. Es war Umm Sayyaf, die Ehefrau von Abu Sayyaf. Später habe ich erfahren, dass dieser "Ölminister" und Leiter von Militäreinsätzen war. Zwölf andere weibliche Gefangene haben sie mit mir in einem Zimmer im Hause Sayyafs wie Tiere in einem Käfig gehalten. Darunter auch zwei Ausländerinnen. Die Ältere war 58. Ich weiß nicht, ob Amerikanerin oder Engländerin. Sie verstand kaum Arabisch. Die andere war 26 Jahre alt und hatte von den IS-Milizen einige Brocken Arabisch gelernt. Ihr Name war Kayla Mueller. Sie war Amerikanerin, hatte als Entwicklungshelferin in Aleppo gearbeitet und war im August 2013 entführt worden. Mit ihr konnten wir uns ein wenig verständigen. Wir erklärten ihr, dass uns dieser Mann mit dem langen schwarzen Vollbart hergebracht habe. "Ich kenne ihn", sagte sie. Sie werde von ihm auch sehr schlecht behandelt. Wir sprachen dann nicht mehr darüber, aber ich habe verstanden, dass sie genau das Gleiche erlebt hatte wie wir. Kayla hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht, dunkle, kurze Haare, traurige Augen. Jedes Mal, wenn al-Baghdadi im Haus auftauchte, nahm er Kayla mit in ein anderes Zimmer. Und das war oft der Fall. Sie weinte, wenn sie aus dem Zimmer kam.

In diesem Haus haben sich unterschiedliche Männer an uns vergangen. Es waren al-Baghdadis engste Mitarbeiter. Sie waren sehr alt, zwischen 40 oder 50 Jahre, und haben uns immer wieder vergewaltigt. Immer wieder. "Hör auf zu heulen", zischten sie und pressten mir die Hand auf die Lippen, "sonst bringe ich dich um." Überall Bisswunden und Striemen. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wieder glücklich zu sein. Sehr oft habe ich daran gedacht, mir das Leben zu nehmen, aber die anderen hielten mich davon ab.

"Ich habe Angst, dass er mich findet und tötet"

Dann beschloss ich erneut, mit Zeinat und einem weiteren Mädchen zu fliehen. Ich wollte nicht mehr leben, und vor dem Tod hatte ich keine Angst mehr. Mehrmals habe ich Kayla und der anderen Ausländerin angeboten: "Kommt mit uns mit!" Aber sie trauten sich nicht und glaubten fest, dass sie bald von ihren Landsleuten befreit würden. Wie ich gehört habe, wurde Kayla im Februar des nächsten Jahres bei einem Luftangriff im Hause Abu Sayyafs unter Trümmern verschüttet. Die amerikanische Regierung hat ihren Tod bestätigt, aber nicht die Umstände, unter denen sie gestorben ist.

Leise sind wir gegen 1 Uhr morgens aus einem Fenster gestiegen. Etwa eine Stunde lang irrten wir in den Straßen umher. Da wir wie Muslime unter langen schwarzen Gewändern verhüllt waren, konnte keiner sehen, wer sich darunter verbarg. In unserer Verzweiflung haben wir schließlich einfach an der nächsten Haustür angeklopft. Aber wer würde uns öffnen?

Furchtsam haben sich uns mehrere Köpfe einer arabischen Familie entgegengereckt. Unsere Stimmen haben sich fast überschlagen. "Wir sind geflohen! Wir kommen aus dem Irak!" Die Mutter, der Vater und die Kinder waren sehr durcheinander, haben uns schnell zu sich hereingewunken. Noch am selben Abend haben sie Kontakt mit einem kurdischen Bekannten aufgenommen, der uns am nächsten Morgen zu sich nach Hause holte und uns in unserem Dialekt auf "Kurmandschi" beruhigte: "Ihr braucht keine Angst zu haben." Wir hatten aber trotzdem Angst, weil dieser Mann wie ein IS-Kämpfer gekleidet war und genauso dauernd über Religion und Islam redete. Er hat uns aber sehr respektvoll behandelt und klargestellt, dass er genau wisse, was mit uns passiert sei. "So etwas ist ein Verbrechen. Das hat mit dem Islam nichts zu tun." Deswegen wolle er uns helfen.

Nach zwei Tagen hatte er ein Auto organisiert. Erst mussten wir noch verschiedene Straßenkontrollen überstehen. Jeder Checkpoint konnte unser Ende bedeuten. Doch immer, wenn die schwer bewaffneten IS-Milizen fragend auf uns tief verschleierte Mädchen deuteten, gab uns der Kurde als seine Töchter aus. Er hatte dafür sogar die Ausweispapiere seiner Kinder mitgenommen. Ich fror, obwohl es so heiß war. 60 Kilometer weiter, in Heseka, hat unser Retter uns einer kurdischen Einheit der Volksverteidigungseinheiten "YPG" (Yekînêyên Parastina Gel) übergeben. Kurz darauf haben uns jesidische Familien an die irakische Grenze gebracht. Dort hat uns mein Onkel in seine Arme geschlossen. Mit allen Mitteln hat er später versucht herauszufinden, wohin meine Eltern und Geschwister verschleppt worden sind, allerdings bisher ohne Erfolg.

Nach Deutschland bin ich ausgereist, weil ich in meiner Heimat nicht mehr länger leben konnte. Ich habe Angst, dass der IS noch stärker wird, dass al-Baghdadi mich findet und tötet. Außerdem schäme ich mich so sehr, wenn ich meinen Landsleuten begegne. Sie sehen mir bestimmt an, was mit mir passiert ist. Zeinat ist auch in Deutschland. Wir leben in geheimen Unterkünften. Aus Sicherheitsgründen hat man uns angewiesen, mit niemandem sonst über unsere Geschichte zu sprechen.

* Name geändert

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