Fakten zum Reaktorunglück: Wie sieht es heute in Fukushima aus?
Wie sieht es im und um den havarierten Reaktor aus?
Im zerstörten Kernkraftwerk lagern immer noch jeweils zwischen 70 und 95 Tonnen Urandioxid in Brennstäben pro Block, die bislang erst teilweise geborgen werden konnten. Schwerpunktmäßig entfernen Mitarbeiter des Betreibers Tepco momentan Brennelemente aus dem Lagerbecken in Block 4: Bis Anfang März 2014 hatten sie 418 von mehr als 1500 Brennelementen gesichert und abtransportiert. In den Containment genannten inneren Bereichen der Reaktoren herrscht wegen der Zerstörungen und der Kernschmelze eine teilweise extrem hohe Strahlenbelastung von bis zu 70 Sievert pro Stunde – ein Wert, den Menschen nur wenige Minuten ungeschützt überleben könnten. Die Schutzhülle sorgt allerdings bislang dafür, dass diese Strahlungsbelastung nicht nach außen dringt. Sie erschwert jedoch die Sicherungsarbeiten im Reaktor, da auch technische Geräte wie Roboter nur kurzfristig funktionsfähig bleiben.
Zur Kühlung pumpen die Ingenieure weiterhin Wasser in die Ruinen, das über Leckagen in die Druckkammer der ursprünglich abgeschirmten Containments gelangt und von dort aus auf immer noch weit gehend unbekannten Wegen in die unteren Bereiche der Reaktoren sowie in das Maschinenhaus fließt. Unterwegs umspült das Wasser die geschmolzenen Kernbrennstäbe, wodurch es stark kontaminiert wird. Diese unterschiedlich stark mit Radionukliden belastete Kühlflüssigkeit wird auf dem Gelände von Fukushima-Daiichi zwischengelagert. Insgesamt befinden sich mittlerweile weit mehr als 300 000 Tonnen kontaminiertes Kühlwasser in Auffangbecken und Tanks vor Ort.
Während aus den Reaktorbehältern selbst momentan dank der getroffenen Schutzmaßnahmen keine weitere Radioaktivität austritt, bereitet das Wasser den Technikern Sorgen: Jeden Tag vergrößert sich das Volumen an verschmutztem Wasser um 400 Tonnen, die in einem der mehr als 1000 Tanks auf dem Gelände aufgefangen werden. Dazu kommen wohl täglich weitere 300 Tonnen an mit Zäsium-137 verseuchtem Grundwasser, die ungehindert ins Meer sickern oder ebenfalls abgepumpt werden – das Isotop hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren.
Die aufgefangenen Flüssigkeiten werden immerhin behandelt, von chemischen Verunreinigungen wie Öl und Salz entfernt und teilweise dekontaminiert. So entzieht ein spezieller Filter die Zäsiumisotope, von denen 99 Prozent aufgefangen werden – die vorhandene Restmenge überschreitet allerdings weiterhin die gültigen Grenzwerte. Zudem fehlen noch Lösungen für Strontium und Tritium – gerade das schwere Wasser ist problematisch, da es umhüllt ist von "normalen" Wassermolekülen. Seit März 2013 läuft immerhin eine Anlage im Testbetrieb, die das Strontium entzieht. Bis Anfang März konnten damit wenigstens schon 60 000 Tonnen Wasser behandelt werden. Nach der Reinigung weist das Wasser eine Radioaktivität von 80 Megabecquerel pro Liter auf, ein Prozent des Werts, den es vor dem Prozess aufwies. Becquerel gibt die Zahl der Zerfälle pro Sekunde an.
Die riesigen Volumina, die sich mittlerweile in Fukushima angesammelt haben, bereiten internationalen Nuklearexperten im Moment mehr Kopfzerbrechen als die versiegelten Reaktorblöcke. Zurzeit besteht keine technische Möglichkeit, sie komplett von Radionukliden zu säubern und gefahrlos ins Meer abzulassen. Angesichts des hohen täglichen Verbrauchs wächst die Sorge, dass die Tanks doch einfach so in den Pazifik entleert werden (müssen). Dazu kommen immer wieder Lecks im Leitungs- und Tanksystem, aus denen Wasser ins Meer oder auf den Boden sprudelt. An diesen Stellen treten auch immer wieder extrem hohe radioaktive Strahlungswerte auf. Messungen in einem Abstand von fünf Zentimetern über dem Boden ergaben im September 2,2 Sievert pro Stunde, so Tepco – die stärkste Strahlung, die bis dato an den Tanks gemessen wurde und die ebenfalls in wenigen Stunden beim Menschen schwere bis tödliche Strahlenschäden verursachen würde. Die Beta- und Gammastrahlung lag allerdings bereits in einem Abstand von einem halben Meter nur noch bei 40 Millisievert pro Stunde.
Die weitaus meisten Tanks bestehen aus verschraubten Elementen, deren Dichtungen nicht immer halten. Tepco soll sie nun in den nächsten Monaten gegen verschweißte austauschen. Die insgesamt ausgetretenen Mengen sind zwar klein – die beiden größten Fälle setzten insgesamt 400 000 Liter frei –, doch weisen sie 230 Millionen Becquerel pro Liter auf: Die Grenzwerte liegen bei maximal 90 Becquerel pro Liter für Zäsium. Mit Hilfe von Robotern suchen die Techniker nach Leckagen; einige konnten sie bereits abdichten.
Als weitere Schutzmaßnahme plant Tepco einen unterirdischen Eisring um die Reaktoren 1 bis 4, der das Gelände endlich abdichten soll. Kühlflüssigkeit mit einer Temperatur von minus 35 Grad Celsius wird dazu durch Rohre im Boden unter den Reaktoren geleitet, was den Untergrund stark auskühlen soll, bis das Grundwasser gefriert. Der entstehende Eisring lässt kein Wasser mehr nach außen dringen, gleichzeitig gelangt kein weiteres Grundwasser mehr von außen ins Innere der Anlage. Ob sich die aus dem Tiefbau bekannte Methode hier ebenfalls bewährt, steht allerdings noch völlig in den Sternen – über Jahre hinweg an einem Standort betrieben wurde sie jedenfalls bislang nicht.
Wie viel Radioaktivität ist in Japan noch vorhanden?
Im August 2011, fünf Monate nach dem Reaktorunfall, berechneten japanische Forscher vom nationalen Institut für Umweltwissenschaften, dass etwa 13&nbps;Prozent des insgesamt freigesetzten Jods und 22 Prozent des freigesetzten Zäsiums über dem japanischen Festland niedergegangen seien. Während das Jod mit einer Halbwertszeit von acht Tagen längst verschwunden ist, werden die ausgetretenen Zäsiumisotope 134 und 137 der Region noch lange erhalten bleiben. Besonders Letzteres ist mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren recht langlebig und macht den Großteil der noch vorhandenen Radioaktivität aus.
Heute erstreckt sich eine bogenförmige Zone der Kontamination vom havarierten Kernkraftwerk aus erst etwa 60 Kilometer nach Nordwesten, wo sich ein geringer belasteter, etwa 100 Kilometer langer Streifen Richtung Süden anschließt. In den am stärksten belasteten Regionen maß die japanische Atomenergiebehörde einen Meter über dem Boden Äquivalenzdosen von über 20 Mikrosievert pro Stunde – umgerechnet eine jährliche Belastung von etwa 170 Millisievert, was in Deutschland der natürlichen Strahlendosis über ein komplettes Menschenleben entspricht. Zu diesen Bereichen hat die Öffentlichkeit allerdings keinen Zugang. Im Umkreis von 20 Kilometern um das Kraftwerk sowie in den meisten Bereichen mit Äquivalenzdosen von mehr als einem Mikrosievert pro Stunde darf man sich nur für einen begrenzten Zeitraum aufhalten.
Nach offiziellen Angaben haben die japanischen Behörden nach dem Erdbeben insgesamt 154 000 Menschen aus der Region um das Kraftwerk evakuiert. Etwa 30 000 von ihnen sollen in den nächsten zwei Jahren zurückkehren können.
Wie verseucht ist der Pazifik im Umfeld Fukushimas und darüber hinaus?
Generell lässt sich sagen, dass sich die Belastung des Ozeans mit Ausnahme des unmittelbaren Umfelds der Anlage in Grenzen hält. Mit zunehmendem Abstand zur Küsten sinkt sie durch den Verdünnungseffekt stetig weiter; vor der US-Westküste lässt sich die Belastung kaum mehr von der natürlichen Hintergrundstrahlung unterscheiden. Der Haupteintrag fand zudem unmittelbar nach der Havarie statt, als Zäsium durch die Explosionen in den Reaktoren in die Atmosphäre gelangte und von dort durch den Regen ausgewaschen wurde. Schon 2012 entsprach die dem Pazifik neu zugeführte radioaktive Belastung nur noch drei Promille der Kontamination, wie sie 2011 vor allem im Zuge des GAUs geschah. Letztes Jahr sank diese Menge nochmals um die Hälfte. Das zeigt, dass abgesehen von einzelnen Lecks wenig verseuchtes Kühlwasser ins Meer dringt.
Laut dem Johann Heinrich von Thünen-Institut in Braunschweig entspricht die 2013 aus Fukushima kontinuierlich in den Pazifik eingetragene Zäsium-137-Aktivität etwa derjenigen, "die in den letzten Jahren jährlich von der Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield in die Irische See eingeleitet wurde". Vor Fukushima herrschen allerdings stärkere Strömungen, die die Radionuklidkonzentrationen schneller und stärker verdünnen, als dies in der kleinen Irischen See der Fall ist. "Effekte der Einträge aus Sellafield auf Mensch oder Tier sind bisher nicht bekannt", so das Thünen-Institut. Die Plutoniumkonzentrationen im Meerwasser liegen unter der Nachweisgrenze, in Bodenproben an Land wurden ebenfalls nur sehr geringe Mengen ermittelt.
Belastet ist und war das Wasser vor allem mit Zäsium-137, Zäsium-134 und Strontium-90, die eine Halbwertszeit von mehreren Jahren bis Jahrzehnten haben. Jod-131, Zäsium-136 und auch Zäsium-134 sind dagegen bereits völlig oder zum großen Teil zerfallen. Die Aktivität pro Liter Meerwasser beträgt in der Nähe des Kernkraftwerks etwa ein Becquerel pro Liter; sie sinkt aber nicht weiter, was auf einen kleinen, aber einigermaßen kontinuierlichen Zustrom an belastetem Grundwasser hindeutet. Auf dem offenen Meer (30 bis 300 Kilometer vor der Küste) wiesen von Tepco unabhängig durchgeführte Messungen nur noch Werte von 0,002 und 0,01 Becquerel nach, was nur wenig höher liegt als die Vergleichsdaten aus der Zeit vor der Katastrophe.
Mit den Meeresströmungen erreichen manche Radionuklide auch die US-amerikanische und kanadische Westküste – vor allem Zäsium und Strontium, die gut löslich sind, während Plutonium sich rasch an Schwebstoffe binden würde und absinkt. Außerhalb des unmittelbaren Hafenbereichs von Fukushima-Daiichi würde das Schwermetall also überhaupt keine Probleme verursachen (bislang gibt es ohnehin keinen Nachweis, dass es ins Meer gelangt sein könnte). Im Februar 2014 konnten Forscher zum ersten Mal Zäsium-137 und Zäsium-134 im Wasser vor der kanadischen Küste ausmachen, allerdings lägen die Konzentrationen weit unter den geltenden Grenzwerten für Trinkwasser, so John Smith vom Bedford Institute of Oceanography in Dartmouth. Sie betrugen 0,9 Becquerel pro 1000 Liter, im Trinkwasser wären 7,4 Becquerel erlaubt. US-Strände wiederum seien bislang nicht von einer zusätzlichen Radionuklidfracht betroffen, so Ken Buesseler von der Woods Hole Oceanographic Institution: Die gemessenen 1,3 bis 1,7 Becquerel pro Kubikmeter entsprächen noch dem, was als Hintergrundstrahlung infolge der weltweiten Atomtests vorhanden war, so der Ozeanologe.
Gleichzeitig verweist er Meldungen über Tiersterben – beispielsweise von Seesternen – vor der kalifornischen Küste wegen Fukushima ins Reich der Märchen. "Das ist falsch. Radioaktivität kann krank machen und Genschäden auslösen, aber nicht in den Konzentrationen, die wir vor der US-Küste erwarten. Viele dieser Berichte kamen bereits auf, bevor uns überhaupt radioaktive Substanzen erreicht haben. Wie soll das funktionieren?", so der Forscher gegenüber "Nature".
Wie riskant sind aus Japan importierte Lebensmittel?
Aus Japan gelangen nur sehr geringe Mengen an Sojaprodukten, grünem Tee, Algen und Gewürzen für die japanische Küche nach Deutschland, die Einfuhr von Fisch spielt quasi keine Rolle. Die Exportprodukte werden sowohl in Japan als auch bei der Einfuhr in die EU auf der Basis einer EU-Verordnung streng überwacht. Nach letztem Stand der Daten bestehe keine Gefahr durch eingeführte Lebensmittel, meldet das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.
Auch Fisch aus dem Pazifik ist unbedenklich: Experten sowohl der staatlichen Überwachungsbehörden als auch des Bundesverbands der deutschen Fischindustrie und des Fischgroßhandels haben keine Belastung in hier verkauften Produkten festgestellt. Zudem geht die Strahlenbelastung in Fischen vor der japanischen Küste seit 2012 deutlich zurück: Waren es Anfang 2012 im Schnitt noch 100 Becquerel pro Kilogramm, so lagen die Werte Ende 2013 bei unter einem Becquerel pro Kilogramm. Nur innerhalb der Sperrzone von 20 Kilometern um das Kraftwerk Fukushima werden noch zum Teil deutlich erhöhte Werte in Fisch und Schalentieren gemessen, dort ist der Fischfang aber auch untersagt. Netze am Ausgang des Hafens verhindern, dass die dort lebenden Tiere, die eine hohe Belastung aufweisen, ins Meer gelangen.
Zwar wurde in Tunfischen vor der kalifornischen Küste aus Fukushima stammendes Zäsium nachgewiesen, doch Ken Buesseler von der Woods Hole Oceanographic Institution zerstreut Befürchtungen: Erst wenn ein Mensch ein Jahr lang die fünffache Menge Fisch essen würde, die normalerweise ein Durchschnittsamerikaner zu sich nimmt – und dabei nur kontaminierte Produkte konsumierte –, dann käme dabei eine Strahlendosis heraus, die unter zehn Millionen Menschen zwei zusätzliche Krebsfälle verursachen würde. Das Risiko sei also nicht null, aber sehr, sehr klein – und auf jeden Fall geringer als die Gefahr durch Polonium-210, das als natürliches Isotop in Meeresfrüchten und Fisch vorkomme.
Wie hoch ist das Gesundheitsrisiko für Bevölkerung und Reisende?
Einer WHO-Studie zu den Folgen von Fukushima zufolge sei das Gesundheitsrisiko für die Menschen vor Ort geringer als ursprünglich befürchtet: Günstige Winde und die Evakuierungsmaßnahmen sollen schwerere Gesundheitsschäden für die Bevölkerung auch rund um Fukushima verhindert haben.Nur innerhalb der am stärksten betroffenen Gebiete um das havarierte Kernkraftwerk sei ein Anstieg einzelner Krebsarten zu erwarten. So sei dort beispielsweise das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um sechs Prozent erhöht, wenn die Frauen als Kleinkind der Strahlung ausgesetzt waren. Hinsichtlich der Notfallarbeiter, die den höchsten Strahlungsdosen ausgesetzt waren, erwarten die Experten für ein Drittel der Betroffenen erhöhte Krebsraten, insbesondere für Leukämie, solide Tumoren und Schilddrüsenkrebs. Deutlich erhöht ist allerdings das lebenslange Schilddrüsenkrebsrisiko für Mädchen, die zum Zeitpunkt des Unfalls ein Jahr alt waren: Es liegt um bis zu 70 Prozent über der spontanen Krebsrate. Eine weitere aktuelle Studie kommt sogar zu dem Schluss, dass das Risiko, an einem Tumor zu erkranken, über die gesamte Lebenszeit um lediglich ein Prozent steigt..
Nicht zu unterschätzen sei die psychische Belastung durch die Folgen von Erdbeben und Tsunami: Der Tod von Angehörigen, die Unsicherheit über die Zukunft, die Evakuierung – das hat die meist älteren Menschen um Fukushima schwer getroffen. Dadurch ausgelöster Stress erhöht beispielsweise das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zudem kann die trotz Entwarnungen anhaltende Beunruhigung über die Situation zu ungesundem Verhalten mit Langzeiteffekt führen, erklärt unter anderem Seiji Yasumura, Gerontologe an der Medizinischen Hochschule von Fukushima.
Reisen in die Region außerhalb der gesperrten Gebiete sind unbedenklich: Laut dem Bundesamt für Strahlenschutz erhalten Reisende bei einem vierwöchigen Aufenthalt beispielsweise direkt in der Stadt Fukushima eine Strahlenbelastung von weniger als 0,4 Millisievert und in den geringer belasteten Regionen im Westen und Süden der Präfektur unter 0,1 Millisievert. Zum Vergleich: Eine Röntgenaufnahme belastet mit etwa 0,01 bis 0,03 Millisievert, und die gesamte natürliche Strahlenbelastung in Deutschland beträgt durchschnittlich 2,1 Millisievert im Jahr. Was das Essen betrifft, so ist ebenfalls wenig zu befürchten: Lebensmittel werden streng überwacht, und nur in Einzelfällen wurden Überschreitungen des Grenzwerts von 100 Becquerel pro Kilogramm für Gesamtzäsium nachgewiesen – im gesamten Geschäftsjahr 2013 lagen bei über 300 000 genommenen Proben in 938 Fällen erhöhte Werte vor. Das Trinkwasser weist keine erhöhten Werte auf und kann bedenkenlos genutzt werden.
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