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Die Wissenschaft vom Unendlichen

Die Mathematik genießt von jeher den Ruf, besonders sichere Erkenntnisse hervorzubringen und hat in dieser Rolle anderen Wissenschaften oft als Vorbild gedient. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet sie jedoch in eine Krise, ausgelöst von Widersprüchen, die sich aus dem problematischen Umgang mit dem Unendlichen ergaben. Hiervon fühlte sich der deutsche Mathematiker David Hilbert (1862-1943) herausgefordert. Sein ehrgeiziges Ziel war die Grundlagensicherung der Mathematik. Er entwickelte das so genannte Hilbertprogramm, ein Konzept, um die Widerspruchsfreiheit der Mathematik und ihrer Methoden zu zeigen.

Was für Ziele und Mittel hat Hilbert in seinem Programm verfolgt? Welche Ideen kamen dabei auf? Welche philosophischen Positionen hat Hilbert im Bezug auf die Mathematik vertreten? Und: Ist das Programm gescheitert, wie es viele auf Grund des so genannten Gödelschen Unvollständigkeitssatzes (siehe etwa SdW 9/1999, S. 74) behaupten? Diese und weitere Fragen behandelt Christian Tapp, Professor für philosophisch-theologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum, in seiner nun auch bei Springer erschienenen Dissertation "An den Grenzen des Endlichen".

Zunächst setzt er sich mit den einflussreichsten Bestrebungen auseinander, die zu Hilberts Zeiten darauf abzielten, die Mathematik gegen Widersprüche abzusichern. Da gab es etwa den – laut Tapp eher gescheiterten – Versuch, die Mathematik auf die Logik zurückzuführen (logizistisches Programm). Einen anderen Ansatz verfolgte der Intuitionismus, dem zufolge die Mathematik überhaupt kein logisches Gebäude von Sätzen ist. Außerdem besagt er, man müsse die Mathematik radikal beschränken: Etwa, indem man nur konstruktive Beweise zulässt und dem sonst in der Mathematik gängigen Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten (entweder ist eine Aussage oder ihre Negation wahr) keine Rolle mehr zumisst.

Für Hilbert begründen diese Beschränkungen eine abzulehnende "Verbotsdiktatur", weshalb er sein eigenes Programm entwickelte. Es besteht aus zwei Schritten. Erstens soll die gesamte "eigentliche Mathematik" formalisiert werden, so dass aus ihr Systeme beweisbarer Formeln werden. Diese Forderung hat wohl dazu beigetragen, dass Hilbert in der Philosophie der Mathematik dem Formalismus zugerechnet wird – was nicht angemessen ist, wie Tapp darlegt. Zugespitzt formuliert, besteht das Wesen der Mathematik dem Formalismus zufolge in der Manipulation bedeutungsloser Formeln nach bestimmten Regeln. Hilbert hingegen sei es viel eher um einen methodischen und axiomatischen Formalismus gegangen: Er habe die Mathematik nur im ersten Schritt formalisiert betrachten wollen, um die Widerspruchsfreiheit zu zeigen, und nicht als Ersatz für die "eigentliche Mathematik". Die umfangreichen Ausführungen des Autors zur Axiomatik und zum mathematischen Wahrheitsbegriff sind positiv hervorzuheben, da sie Hilberts Auffassungen und dem damit verbundenen neuen Mathematikverständnis sehr aufschlussreich nachgehen.

Im zweiten Schritt des Programms, erläutert Tapp, soll zur eigentlichen formalisierten Mathematik eine nicht-formalisierte, inhaltliche Metamathematik hinzutreten, mit der die Widerspruchsfreiheit der ersteren gezeigt werden kann. Hilbert hat sich bei den Überlegungen zu dieser Metamathematik vom Intuitionismus inspirieren lassen: Die Metatheorie, auf die alles zurückgeführt werden soll, muss ihm zufolge auch ohne Widerspruchsfreiheitsbeweis als sicher gelten und daher "anschaulich überblickbar, handgreiflich sicher und auf jeden Fall endlich" sein.

Tapp behandelt auch die verschiedenen praktischen Umsetzungen des Hilbertprogramms. Er analysiert etwa die Arbeiten des Mathematikers selbst, als auch die seiner Kollegen Wilhelm Ackermann (1896-1962) und Gerhard Gentzen (1909-1945). Zudem geht er in philosophisch-kritischen Reflexionen der Frage nach, ob das Programm letztlich gescheitert sei. Hilbert war überzeugt davon, dass "seine Beweistheorie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten würde, die Probleme mit dem Unendlichen" radikal aufzulösen. Die Rede vom Unendlichen sei in der Mathematik demzufolge eine Sprechweise und durch die finite (das heißt endliche) Metamathematik "eliminierbar". Tapp kommt nach differenzierten Betrachtungen zum Ergebnis, dass das Hilbertprogramm in diesem Sinne tatsächlich kaum durchführbar ist und das Ziel, "die Grundlagenfragen in der Mathematik als solche endgültig aus der Welt zu schaffen" (Hilbert), nicht erreicht wurde. Dies deutet der Autor als Bestätigung der Aussage des Mathematikers und Philosophen Hermann Weyls (1885-1955), wonach die "Mathematik die Lehre vom Unendlichen" sei. Allerdings zeigt er, dass aus den Gödelschen Sätzen nicht prinzipiell das Scheitern gefolgert werden kann. Und erfolgreich war das Programm insofern, dass es eine neue und früchtetragende mathematische Disziplin begründete, die Beweistheorie.

Dem Anspruch, neue Deutungen auf der Grundlage historischer Forschung zu präsentieren und Fehlinterpretationen im Bezug auf das Hilbertprogramm auszuräumen, wird Tapp gerecht. Seine historischen, mathematischen und philosophischen Analysen sind wissenschaftlich fundiert und überzeugend. Tapp versteht es, auch in komplexen Zusammenhängen äußerst klare, gut strukturierte Darstellungen zu liefern. Ursprünglich als wissenschaftliche Arbeit konzipiert, ist das Werk jedoch für Leser ohne solide mathematische und grundlegende philosophische Kenntnisse nur schwer verständlich. Der Autor setzt zahlreiche Fachtermini, formale Schreibweisen und das Wissen um mathematische Aussagen beim Publikum voraus. Sein Buch richtet sich daher am ehesten an Studierende der entsprechenden Fächer, Mathematiker beziehungsweise fortgeschrittene Interessierte.

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