Eine Minderheit im eigenen Körper
Bakterien sind Überlebens- und Wandlungskünstler und daher praktisch überall anzutreffen. Allein im menschlichen Körper tummeln sich wohl einige hundert Billionen Kleinstlebewesen: etwa dreimal so viele, wie unser Organismus selbst Zellen besitzt. Da kann man sich durchaus als eine Minderheit im eigenen Körper fühlen und steht vor der Frage, ob wir überhaupt Individuen sind. Aus biologischer Sicht sind wir das nicht. Vielmehr handelt es sich bei uns um "Holobionten", Gemeinschaften verschiedener Lebewesen, die sich zu einem "Superorganismus" zusammengefunden haben. Und die menschlichen Anteile in uns sind auf die mikrobiellen angewiesen: Der Versuch, ohne letztere leben zu wollen, käme einem schleichenden Selbstmord gleich. Das trifft nicht nur auf Menschen zu, sondern auch auf zahlreiche andere vielzellige Lebewesen.
Der renommierte Wissenschaftsautor Bernhard Kegel entführt seine Leser im vorliegenden Band auf eine Reise in die aufregende Welt der Mikroorganismen. Als Biologe und versierter Buchschreiber versteht er es, ein gleichermaßen informatives wie verständliches und unterhaltsames Werk zu verfassen. Er beleuchtet das Thema aus biologischer Sicht, nicht aus medizinischer. Deshalb handelt "Die Herrscher der Welt" größtenteils von den Vorteilen, die Wirte genießen, die sich mit Bakterien und anderen Einzellern zusammentun.
Kooperation zwischen Groß und (sehr) Klein
Der Autor reiste nach Jordanien, um einem Forscherteam aus Deutschland bei ihrer Arbeit über die Schultern zu schauen. Die Wissenschaftler untersuchten Korallen, die in Symbiose mit anderen Organismen leben. Kegel beschreibt den Alltag und die Herausforderungen der Wissenschaftler und erzählt von deren Erkenntnissen. So können die Korallen im nährstoffarmen Meer nur überleben, wenn sie mit Algen und Bakterien eng "zusammenarbeiten".
In ähnlicher Form treffe das auch auf andere Lebewesen zu, etwa Tintenfische, Termiten oder Pflanzen, hält der Autor fest. Unter den irdischen Vielzellern sind Holobionten demnach keine Ausnahme, sondern die Regel. Sie sind in ihrer Existenz von anderen Organismen abhängig, ebenso wie wir.
Allerdings, konstatiert Kegel, sei unser Darm der am dichtesten besiedelte Ort der Welt. Wir brauchen die Mikroben als Verdauungshelfer. Und nicht nur wir: Auf diesem Planeten dürfte es keine Tierart geben, die ohne die Stoffwechselhilfe von Bakterien auskommt. Bakterien sind einfach die "besseren Chemiker". Kein Wunder, dass ein Drittel aller Stoffe, die mit dem Blut durch unseren Körper transportiert werden, von Mikroben stammt. Ihr chemischer Einfluss reicht mithilfe des Kreislaufsystems bis in entlegenste Körperregionen – auch bis zum Gehirn, wo mikrobielle Substanzen an elementaren Funktionen des Nervensystems mitwirken.
Schiefe Perspektive
Unsere Vorstellung von Bakterien und Mikroben war jahrzehntelang verzerrt, und zwar infolge der Fixierung auf Krankheitserreger. Folgerichtig verstand man unser Immunsystem als Antwort auf die mikrobielle Bedrohung. Kegel verdeutlicht allerdings, dass das Immunsystem nicht nur ein Abwehrbollwerk ist, sondern auch und vor allem den Erhalt der artspezifischen Partnergemeinschaft organisiert. Die Bekämpfung von Krankheitserregern ist nur eine von seinen vielen Aufgaben, und auch die erledigt es nicht allein, sondern mit Unterstützung von bakteriellen Symbionten. Ein Interaktions- statt ein Abwehrsystem: Das ist eine fundamental andere Art, der Welt außerhalb des eigenen Körpers gegenüberzutreten.
Für den Autor stellt sich die Frage, ob wir nun, da wir verstanden haben, dass zahlreiche Vielzeller Holobionten sind, eine neue Evolutionstheorie brauchen. Zumindest sollten wir seiner Meinung nach die Bedeutung von Mikroorganismen in der Evolution überdenken, denn die Einzeller seien an der Bildung neuer Arten maßgeblich beteiligt. Der Biologe spricht sich dafür aus, unser Konzept davon, was Lebewesen sind, radikal zu verändern. Viele Fragen müssten neu gestellt, viele biologische Phänomene neu betrachtet und bewertet werden. Dazu gehörten grundlegende Konzepte wie das der Evolution und der Ontogenese.
Auf den letzten Seiten des Buchs zaubert der Autor noch eine Überraschung aus dem Hut: Tiere haben nicht nur ein eigenes Mikrobiom, sondern auch ein artspezifisches Viriom, also einen eigenen Satz an Viren, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen. Etwa 60 Prozent dieser Kleinstpartikel sind so genannte Phagen, infizieren also ausschließlich Bakterien. Das lässt viele Forscher vermuten, dass Viren die eigentlichen Kontrolleure des speziestypischen Mikrobioms sind. Inwieweit diese Hypothese tatsächlich stimmt, bleibt herauszufinden. Mit Sicherheit aber macht die Biologie im Hinblick auf die neuen Befunde gerade turbulente Zeiten durch. Nach der fesselnden Lektüre von "Die Herrscher der Welt" bleibt zu hoffen, dass Kegel ein weiteres Buch über die Mikrowelt schreiben wird, vielleicht über das mindestens ebenso faszinierende Thema Viren.
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