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Kein Leisetreter

Dieses Werk ist ein klassischer Wälzer: dick, schwer, inhaltsreich und anspruchsvoll. Mehr als 700 Seiten über ein Leben, das zur Zeit des Erscheinens erst 72 Jahre währte – heute eigentlich kein richtiges Alter mehr. Streng genommen sind es zwei Bücher, die der Verlag zusammengebunden hat und die 2013 beziehungsweise 2015 einzeln in England erschienen. Gemeinsam ergeben sie die Autobiografie von Richard Dawkins, dem weithin bekannten Zoologen, Evolutionsbiologen und Kirchenkritiker.

Im ersten Band schildert Dawkins seine frühen Jahre. Unter dem Titel "Staunende Neugier" (original "An Appetite for Wonder") stellt er seine Kindheit und Jugend sowie seine Entwicklung zum Wissenschaftler dar, bis hin zum Erscheinen seines ersten und bis heute bekanntesten Buchs "Das egoistische Gen" (1976). Sein Werdegang als Kind aus reichem, britischem, bürgerlichem Elternhaus führte über standesgemäße Internate und konnte im Grunde nicht anders enden als mit einer Promotion 1966 an der University of Oxford. Dort freilich nicht irgendwo, sondern am 1263 gegründeten Balliol College, und auch nicht bei irgendwem, sondern beim späteren Nobelpreisträger Niko Tinbergen (1907-1988).

Ein Faible für Philosophie

Dawkins ist ein großer Erzähler, und auch die Übersetzung seiner Prosa liest sich angenehm, wenngleich nicht locker. Man erfährt eine Menge über die Zeit des niedergehenden British Empire, als die Familie in Afrika weilte. Man liest viel über die britischen Internate mit ihren strengen Regeln und teils grausamen Ritualen in den Nachkriegsjahren, als die Dawkins wieder zurück in England waren. Immer wieder fällt auf, welche Freude die Familie und auch der junge Dawkins an umfangreicher Bildung hatten: "Es ist wunderschön, Wissen zu sammeln und Erkenntnis zu erlangen. Das ist tatsächlich Poesie im Leben." Mehrfach erwähnt der Autor, dass er nicht wie viele andere Biologen zur Wissenschaft fand, indem er sich an Aquarien erfreute, Schmetterlinge oder Käfer sammelte oder seine Zeit am Mikroskop verbrachte. Stattdessen, schreibt er, seien seine Vorlieben "stärker philosophischer Natur" gewesen.

So orientierte sich Dawkins während seiner ersten Versuche mit Hühnern an Karl Poppers (1902-1994) wissenschaftstheoretischen Methoden der Überprüfung von Ergebnissen. Eine zweite Leidenschaft offenbarte sich 1965: Damals gab es in Oxford einen (!) Computer, und dort begann für den Autor das mehr als vierzigjährige Schreiben eigener Programme für diese zeitfressenden Maschinen bis hin zur Gefahr, davon süchtig zu werden. Später wandte er sich noch einem weiteren Thema zu, das mit C.P. Snows These von den "Zwei Kulturen" (geisteswissenschaftlich-literarisch sowie naturwissenschaftlich-technisch) zusammenhing. Immer wieder versuchte Dawkins, in Vorträgen und Podiumsdiskussionen hier eine Annäherung zu einer "Dritten Kultur" anzuregen. Seine Liebe zur Literatur, genauer zur Poesie, ist in der Autobiografie deutlich erkennbar – in Form von sehr vielen Gedichtzitaten, die man im Anhang übersetzt findet. Sie, aber auch die etlichen Personenschilderungen und zahlreichen Anekdoten machen die Buchseiten rasch voll: "Wer abschweifende Anekdoten nicht mag, wird vielleicht feststellen, dass er hier das falsche Buch liest".

Genzentrierte Perspektive

Darauf sollte man sich einstellen, denn im zweiten Band "Eine Kerze im Dunkeln" ("Brief Candle in the Dark") bekommt man davon noch wesentlich mehr geboten. Er schildert die Zeit, als "Das egoistische Gen" Dawkins bereits berühmt gemacht hatte. Die genzentrierte Sicht, die dieses Werk vermittelt, ist unter heutigen Evolutionsbiologen wohl weit verbreitet. Sie schien zunächst eines der wichtigsten Probleme des Darwinismus endgültig zu klären, nämlich was das Objekt der Auslese ist. Demnach sind es die (mutierten) Gene, die den Organismus als Vehikel "benutzen", um sich selbst zu erhalten. Ohne Widerspruch blieb diese extrem darwinistische Perspektive freilich nicht. Ernst Mayr (1904-2005) etwa, gewiss kein Zwerg unter den Evolutionstheoretikern, hielt den ganzen Organismus für die Einheit der Auslese, weil, wie er lapidar bemerkte, Gene "nicht frei herumlaufen".

Dawkins, sonst nicht als zimperlich bekannt, rechnet in seiner Autobiografie mit keinem seiner Gegner ernsthaft ab. Er erwähnt sie allerdings auch kaum. Mayr habe ihn wohl falsch verstanden, schreibt er. Den Biologen und Paläontologen Stephen Jay Gould (1941-2002), der belesener, gebildeter und literarisch erfolgreicher als er selbst war, nennt er immerhin mehrfach. So bezeichnet er ihn herablassend als "Alphamännchen" einer Tagung zur Soziobiologie, die stattfand, nachdem der Biologe Edward O. Wilson (geb. 1929) im Jahr 1975 sein gleichnamiges Lehrbuch veröffentlicht hatte. Dawkins diffamiert Gould und dessen Mitstreiter Richard Lewontin (geb. 1929) als "Harvard-Marxisten", die durch ihre Meinung die Studenten dazu angeregt hätten, die Diskussion zu stören.

Ergebnisse moderner genetischer Forschungsarbeiten in den zurückliegenden 20 Jahren, also nach dem Erscheinen des "Egoistischen Gens", erwähnt der Autor entweder gar nicht oder erledigt sie in einer Fußnote: "Man sollte sich übrigens nicht dadurch verwirren lassen, dass das Wort 'Epigenetik' in jüngster Zeit als Etikett für eine modische, übermäßig aufgebauschte Idee vereinnahmt wurde..." (sic!). Auch neuere Konzepte wie die Evolutionäre Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) braucht man bei Dawkins nicht zu suchen.

Hunderte Freunde

Dafür sonnt sich der Autor ausgiebig im Licht der eigenen Erfolge: mehrere glänzend geschriebene Bücher, hunderte Artikel, Vorträge, Filme, Fernsehsendungen. Er lernte zahlreiche Menschen kennen – das Namensregister führt geschätzte 800 –, die er oft seinem engsten Freundeskreis zurechnet und über die er ausführlich erzählt, wobei er jede Menge Tratsch feilbietet. Zudem bedient er sämtliche Vorurteile über die als arrogant, exzentrisch oder verschroben geltenden britischen Gentlemen. So schildert er, wie der Anthropologe Richard Leakey (geb. 1944) bei einem Unfall in Nairobi beide Beine verlor und diese unbedingt in England begraben wollte. An anderer Stelle berichtet er davon, wie er Aufmerksamkeit bei Queen Elisabeth II. erregte, als er "zum wöchentlichen Lunch bei der Königin in den Buckingham Palace eingeladen war" und sie seine Krawatte missbilligte, die von Dawkins’ Gattin mit Warzenschweinen bemalt worden war.

Aufgrund des Umfangs dieser Geschichten und der manchmal seitenlangen Zitate aus eigenen Veröffentlichungen gehen mindestens zwei weitere Facetten von Dawkins’ Denken beinahe unter. Da ist zunächst sein Kampf gegen den "Glauben an den Glauben", der ihm viele Schmähungen einbrachte, vor allem nach dem Buch "Der Gotteswahn" (2006). Und da sind die "Meme", die hypothetischen Replikationseinheiten einer kulturellen (lamarckistischen) Evolution. Bis heute ist empirisch nichts Brauchbares darüber bekannt, aber das Konzept ist schon großartig.

Mehr als 160 Farbfotos aus dem Album des Erzählers und einige veranschaulichende Grafiken illustrieren diese Biografie eines erfolgreichen Wissenschaftlers, der manchmal etwas langatmig und oft eitel, aber immer leidenschaftlich und mit viel britischem Humor schreibt.

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