Von Geburt an helle?
Über die Erblichkeit von Intelligenz wird viel geredet. Doch was davon ist wissenschaftlich stichhaltig, was bloße Mutmaßung – und wer argumentiert hier aus welchen Beweggründen? In ihrem kompakt gehaltenen Sachbuch erläutern der Neurogenetiker Karl-Friedrich Fischbach und der Journalist Martin Niggeschmidt das aus der quantitativen Genetik stammende "Erblichkeitsmodell". Dabei räumen sie kräftig mit Mythen und Falschaussagen auf. Der Band richtet sich – den Kriterien der "essentials"-Reihe entsprechend – sowohl an interessierte Laien als auch an Fachleute; kurz an alle, die sich in diesem Spezialgebiet der Intelligenzforschung auf den neuesten Stand bringen möchten. Diesem Anspruch werden die Verfasser gerecht.
Fischbach und Niggeschmidt beleuchten zunächst die Grundlagen des Erblichkeitsmodells, wobei ihre Ausführungen für nicht Vorgebildete zugegeben sehr anspruchsvoll sind. Nach der knappen Einführung in die einschlägige Mathematik lassen die Autoren ihre Leser aber nicht mit den Gleichungen allein. Vielmehr erläutern sie diese an anschaulichen Beispielen und Grafiken. Elegant erklären sie sperrige Begriffe wie "genotypischer Varianzanteil" oder "Heritabilität".
Geno- und Phänotyp
Schnell kristallisiert sich heraus, dass die "Erblichkeit" der Intelligenz maßgeblich von den Bedingungen abhängt, unter denen Menschen aufwachsen. Es handelt sich um einen relativen Wert, der überhaupt nur im Hinblick auf Unterschiede in Testgruppen aussagekräftig ist. Hier kommt das altbekannte Paradigma von Genen versus Umwelt zum Tragen – jegliche Eigenschaften sind das Produkt der relativen Anteile dieser Einflussgrößen. Wenn Wissenschaftler die "Erblichkeit" eines Merkmals bestimmen, so tun sie das für eine bestimmte Zahl von Probanden. Der ermittelte Wert gilt dann lediglich für die Testteilnehmer und lässt sich nicht einfach beliebig auf andere Gruppen oder gar ganze Bevölkerungsteile ausweiten. Zugleich verdeutlichen die Autoren, dass der umgangssprachliche Gebrauch der zugehörigen wissenschaftlichen Termini fast zwangsläufig zu Missverständnissen und Trugschlüssen führt. So ist "erblich" eben nicht gleichzusetzen mit "angeboren", wie der allgemeine Sprachgebrauch vielleicht nahelegt.
Weiterhin gehen Fischbach und Niggeschmidt verschiedenen Problemen nach, die sich aus einer Fehlinterpretation des Erblichkeitsbegriffs ergeben. Etwa der These, ab einem hinreichend großen Erblichkeitswert von Intelligenz werde eine biologisch determinierte "Schallmauer" erreicht, ab der spezielle Förderangebote überflüssig würden. Selbst eine Erblichkeit von 100 Prozent bedeute einfach nur, dass die relevanten Umweltbedingungen für das untersuchte Merkmal bezogen auf die untersuchte Gruppe völlig gleich waren – die Gruppenunterschiede also zu 0 Prozent etwa durch eine unterschiedliche Kinderstube bedingt sind. Diese Bedingungen können aber nun für alle Individuen einer Stichprobe gleichermaßen sowohl förderlich als auch nachteilig sein. Ob sich beispielsweise Förderprogramme positiv, negativ oder überhaupt nicht auf Gruppen oder einzelne Personen auswirken, müsse in jedem Fall empirisch untersucht werden und lasse sich nicht durch das Ermitteln eines Erblichkeitswerts vorhersagen.
Gesellschaftliche Debatten
Die Autoren greifen latent vorhandene Vorurteile und gefühlte Tatsachen auf und untersuchen sie nüchtern auf wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt. Beispielsweise analysieren sie die sarrazinsche Idee von ererbten Defiziten hinsichtlich Bildungsbereitschaft und Intelligenz bei Migranten und sozial Schwachen, oder auch das viel ältere, aber verwandte Szenario Francis Galtons vom Niedergang der Gesellschaft wegen einer "höheren Reproduktionsrate von Minderbegabten".
Das Fazit des Buchs lautet, das Erblichkeitsmodell sage im Hinblick auf Intelligenztests hauptsächlich etwas über die Chancen(un)gleichheiten aus, unter denen die getesteten Probanden aufwuchsen. Ihr zugänglich geschriebenes Werk erklärt faktenbasiert und anhand zahlreicher Abbildungen den komplexen Stoff, um so Missverständnisse, aber auch bewusste Falschaussagen aufzudecken. Gerade vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen liefern die Autoren damit einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung gefühlsbeladener Inhalten.
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