Deutsch nur mit Pferden
War der habsburgische Kaiser Karl V. (1500-1558) ein sprachbegabter Mann? In seinem Reich ging die Sonne nicht unter, und wer ein so großes Imperium regiert, sollte zumindest einiger der darin vertretenen Landessprachen mächtig sein. Nach eigener Aussage redete Karl mit Gott spanisch, mit Männern italienisch, mit Frauen französisch und mit Pferden deutsch. Wie das Deutsche zu einer Sprache wurde, die auch in anderen Kommunikationszusammenhängen anwendbar ist, beschreibt der Heidelberger Germanistikprofessor Jörg Riecke im vorliegenden Werk.
Der besondere Zugang, den Riecke seinen Lesern eröffnet, ist der einer kulturgeschichtlichen Annäherung. Der Autor richtet sich in erster Linie an Studienanfänger, die Deutschlehrer werden möchten, aber auch an interessierte Leser ohne germanistische Vorkenntnisse, für die viele einschlägige Werke mit ihren hochspezialisierten Ausarbeitungen zu anspruchsvoll sind. Aus diesem Grund betont Riecke, er verstehe sein Büchlein "als Hinführung zu den großen, umfangreichen Darstellungen, die das Fach zu Recht prägen".
An ein breites Publikum gerichtet
Was das Werk weiterhin kennzeichnet, ist sein erzählender Duktus und sein weitgehender Verzicht auf einen wissenschaftlichen Apparat. Fußnoten, die sich in anderen Publikationen zu einem eigenen Genre der Wissenschaftsprosa entwickelt zu haben scheinen, fehlen hier vollständig. Verweise auf die im Text zitierte weiterführende Literatur finden sich am Ende des Bands. Hierin lässt sich ein kleines Manko erkennen, erschwert das Fehlen konkreter Seitenangaben bei Zitaten im Text doch das Nachlesen in den genannten Fachbüchern.
Riecke widmet sich der Entwicklung der deutschen Sprache von Karl dem Großen (747-814) über Martin Luther (1483-1546) bis zum Nationalsozialismus und darüber hinaus. Einen besonderen Schwerpunkt legt er auf die Zeit zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert. Seine Darstellung endet bei zirka 1950; in einem abschließenden Ausblick verweist er auf die sprachlichen Veränderungen der jüngeren Gegenwartssprache, die jedoch nicht mehr Gegenstand der Sprachgeschichtsschreibung seien. Das ist ein bisschen schade, da gerade die medialen Neuerungen der zurückliegenden zwanzig Jahre einigen Einfluss auf die Schriftsprache hatten.
Jedem Kapitel steht eine plakative Überschrift voran, die wesentliche Entwicklungen der jeweiligen Sprachepoche prägnant zusammenfasst. Sie macht nicht nur neugierig, sondern trägt auch dazu bei, den Lesern einen guten ersten Überblick darüber zu vermitteln, wie die einzelnen Epochen im historischen Verlauf zusammenhängen. Natürlich muss man hier davor warnen, Sprachgeschichte allzu teleologisch (an Zwecken orientiert) anzusehen: Es könnte der Eindruck entstehen, ihre Entwicklungsstränge liefen zielgerichtet auf einen Endpunkt zu, den wir als fertige und nicht mehr veränderbare Verfasstheit der Gegenwartssprache erleben. Dies jedoch hat Riecke keineswegs im Sinn, wie er mehrfach nachdrücklich betont.
Frauen als Wegbereiter
Eine Sprache entwickelt sich nicht losgelöst von ihren Sprechern und dem kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Rahmen, in den die Sprachgemeinschaft eingebunden ist – eine an sich banale Erkenntnis. Doch Riecke gelingt es eindrucksvoll und anhand vieler spannender Textzeugnisse, dies plausibel zu veranschaulichen. Dabei greift er auch auf eher unbekannte Texte zurück und beleuchtet Personen abseits des wissenschaftlichen Rampenlichts – einer der Pluspunkte seines Werks. Am Beispiel der Mathematikerin und Astronomin Maria Cunitz, die im 17. Jahrhundert in Schlesien wirkte, illustriert er, dass der Einfluss von Frauen auf die deutsche Wissenschaftssprache nicht unterschätzt werden darf. Da sie meist keinen unmittelbaren Zugang zur lateinisch geprägten Gelehrtenkultur der frühen Neuzeit hatten, verfassten sie ihre wissenschaftlichen Beiträge vielfach auf Deutsch. So wirkten sie daran mit, diese Sprache in der Wissenschaftskultur zu etablieren.
Trotz seines geringen Umfangs bietet der Band einen fundierten Überblick über die Entwicklungspfade der deutschen Sprache. Zahlreiche Beispiele sorgen für Anschaulichkeit. Der Autor macht deutlich, dass Sprachgeschichte alles andere als graue Theorie ist. Mit seiner narrativen Herangehensweise hat er ein informatives und zugleich unterhaltsames Werk geschaffen, das Leserinnen und Lesern hoffentlich Lust auf mehr macht.
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