Lobpreisung des Gehirns
Das menschliche Gehirn ist kein Computer – noch nicht einmal ein bisschen. Ja, in einem gewissen Sinn tun beide dasselbe: denken, oder etwas konkreter, Informationen verarbeiten und nach dem Ergebnis dieser Verarbeitung handeln. Aber sie tun es auf äußerst verschiedene Weise. Wer das ignoriert, droht im ersten Schritt an der Mangelhaftigkeit des eigenen Kopfes zu verzweifeln: Wie traurig, dass es mir praktisch nie fehlerfrei gelingt, zwei dreistellige Zahlen im Kopf zu multiplizieren, den Inhalt der soeben gelesenen Seite Wort für Wort zu reproduzieren oder in einem Nonsenstext alle "d" anzustreichen. Im zweiten Schritt folgt die Trotzreaktion: Aber ich kann doch, was ein Computer nicht kann: Kunstwerke schaffen, Auto fahren, Gesichter erkennen, Schach/Go/Poker spielen ... Leider wird diese Liste immer kürzer – der Sieg des Computerprogramms "AlphaGo" gegen die weltbesten Go-Spieler lässt grüßen.
Henning Beck, Neurowissenschaftler in Frankfurt und bekannter Wissenschaftsautor, baut sowohl das Minderwertigkeitsgefühl als auch den Trotz wissenschaftlich aus und verschärft den Gegensatz zwischen den zugehörigen Stärken und Schwächen dabei noch. Tätigkeiten, bei denen Computer stark sind – vorgeschriebene Prozeduren präzise durchzuführen –, gelingen uns nicht nur ausgesprochen schlecht, sie sind uns auch zuwider, und zwar so sehr, dass unser Gehirn bei jeder Gelegenheit aus der Routine ausbricht. Aber genau hierin, schreibt Beck, liegt unsere große Stärke. Die Weigerung, die Welt stets unter der gleichen vorgeschriebenen Perspektive zu sehen, führe zu neuen Sichtweisen und neuen, kreativen Ideen. Eben weil wir uns so schlecht an isolierte Fakten erinnern können, haben wir es nötig, diese narrativ einzubetten, sprich zu ganzen Geschichten zu ergänzen. Sei es mithilfe von echtem, aus der Erinnerung entnommenem Material, oder unter Rückgriff auf die Fantasie. Und genau damit stellen wir neue, potenziell hilfreiche Zusammenhänge her.
Der Maschine voraus, da ihr unterlegen
Beck geht so weit, eine Art Notwendigkeit zu behaupten: Nur dadurch, dass wir in den computertypischen Fähigkeiten so schwach sind, könnten wir in unseren "echt menschlichen" Fähigkeiten so stark sein. Diese Position dürfte einer philosophischen Nachprüfung schwerlich standhalten. Jedenfalls kann ich mir mühelos vorstellen – kontrafaktisch natürlich, aber verlockend –, dass mein Gehirn so arbeiten würde wie gewohnt, auch wenn es mit einem perfekten Gedächtnis ausgestattet wäre. Aber als Leitmotiv für das Buch taugt Becks These allemal. Der Autor greift eine Fehlleistung des Gehirns nach der anderen auf – Vergessen, nachträglich verfälschte Erinnerungen, Blackout unter Stress, ungenaue Zeiteinschätzung, Rechenfehler, den "inneren Schweinehund" – und wendet sie alle ins Positive. Oder er gibt uns zumindest Ratschläge, wie wir damit umgehen können.
Bewundernswert ist die große Masse an neuerer und neuester Literatur (mehr als 200 Nachweise), die der Autor für dieses Werk gesichtet hat. Manch verblüffendes Ergebnis dient ihm als willkommene Auflockerung des ohnehin launig geschriebenen Textes – und provoziert Stirnrunzeln. Ist wirklich knapp die Hälfte der deutschen Frauen eher bereit, einen Monat lang auf Sex zu verzichten als auf ihr Smartphone? Und ziehen tatsächlich zwei Drittel der Männer, eine Viertelstunde lang quälender Langeweile ausgesetzt, es vor, sich selbst Elektroschocks zu versetzen, statt einfach nichts zu tun? Skepsis scheint angebracht.
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