Menschmaschinen und Maschinenwelten
Es sind monströse Visionen, die Sciencefiction-Autoren seit den 1970er Jahren entwickelten: Die Kriege der Zukunft würden von Stahlkolossen, Kampfrobotern und Cyborgs geführt. Entweder, so die Prognose, bilde der Mensch in diesen dystopischen Welten eine Einheit mit der Maschine, oder die Killerroboter agierten autonom und bedürften des Homo sapiens gar nicht mehr. Läuft die Menschheit am Ende sogar Gefahr, von ihren eigenen Maschinen beherrscht zu werden?
Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Wissenschaft der Kybernetik hat solche Vorstellungen befeuert. Ihr Forschungsgebiet ist die Regelung und Steuerung von Maschinen. Als ihr Gründervater gilt der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener (1894-1964). Die Disziplin wurzelte ursprünglich in der Suche nach einer effektiveren Luftabwehr gegen deutsche Bomberangriffe. Dazu war eine bessere Koordination der Abwehrsysteme notwendig, um den Luftraum zu kontrollieren. Hierfür wurden (und werden) immer leistungsfähigere Computer und Netzwerke entwickelt.
Räume aus Bits und Bytes
Thomas Rid, Professor in Security Studies am Londoner King's College, zeigt im vorliegenden Buch, dass es ohne Kybernetik nicht möglich gewesen wäre, die heutigen Cyberwelten zu entwickeln. Mit dem Begriff "Cyber" verbinde allerdings jeder etwas anderes: Internet, Cyberkrieg, Datensicherheit, Hackerangriffe, Cybersex, Cyberraum, Cyberpunk und so weiter. Diese Vielschichtigkeit führt Rid auf die Ideengeschichte der Kybernetik vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und technischer Erwartungen zurück.
Militärische Anwendungen, schreibt Rid, seien schon immer ein wesentlicher Teilaspekt der Kybernetik gewesen. Sie liefen auf eine immer stärker automatisierte und computergesteuerte Waffentechnik hinaus. Allerdings stieß das schon bald auf Vorbehalte. Suchte man während des Weltkriegs noch nach Möglichkeiten, die Luftabwehr zu verbessern, meldeten sich ab den 1950er Jahren kritische Stimmen zu Wort: Drohe künftig eine Kriegführung auf Knopfdruck? Werde der Mensch gegenüber den automatisierten Waffensystemen und einer automatisierten Industrieproduktion letztlich sogar überflüssig?
Die Mechanisierung von Organismen kam schnell als populäres Thema hinzu, wie der Autor darlegt. Maschinelle Antriebselemente konnten als Muskeln, elektrische Leitungen als Nerven, Sensoren als Sinnesorgane interpretiert werden. Schon Wiener hatte das getan. Die Implantierung von Technik in den menschlichen Körper ließ das Konzept des Cyborgs ("Cybernetic organism") entstehen. Diese Hybriden könnten gefährliche Aufgaben im Weltraum oder in der Tiefsee übernehmen, hieß es. Schon früh erkannten Experten die Möglichkeit, der Medizin neue Perspektiven zu eröffnen, indem man amputierte Gliedmaßen durch bewegliche und fühlende Prothesen ersetzt. Für den Dschungelkrieg in Vietnam ließ das amerikanische Militär vierbeinige Exoskelette als Laufmaschinen entwickeln. Prototypen wie der "Walking Truck" sollten in unwegsamem Gelände Radfahrzeuge ersetzen; das Projekt wurde allerdings gestoppt und die Aufgabe Transporthubschraubern übertragen.
Spielwiese für Sektierer
Ebenso zeigt Rid in seinem Buch, dass Vertreter der Esoterik die Kybernetik in den 1950er Jahren für sich entdeckten. Dabei wurden sie von der Sciencefiction inspiriert. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählt Lafayette Ronald Hubbard (1911-1986), der Begründer der Scientology-Sekte. Er interpretierte den menschlichen Geist als "Rechenmaschine", die mit den "richtigen" Eingangsdaten gefüttert werden müsse. Aus falschem Input resultiere ein unnormales menschliches Verhalten, das sich aber mittels seiner (Hubbards) Methoden "therapieren" ließe. Wiener distanzierte sich von diesen Ansichten vehement und warnte vor Missbrauch und Gefahren, die daraus erwachsen könnten.
In den 1970er und 1980er Jahren, so Rid, wendete sich die Aufmerksamkeit dem virtuellen Raum im Innern von Computernetzwerken zu. Der Autor thematisiert Datenhandschuhe, -brillen und -anzüge, was bei Lesern, die diese Zeit selbst erlebt haben, Erinnerungen wecken dürfte. Damals begann die Jagd nach Rechnern und Netzwerken mit immer höherer Arbeitsleistung. Denn es zeichneten sich die enormen Möglichkeiten des Cyberspace ab, zum Beispiel für militärische Simulationen.
In den 1990er Jahren erblühte das Internet, was bei manchen Aktivisten die Hoffnung auf eine neue Ordnung ohne staatlichen Zugriff schürte. Sehr schnell rückte auch das Militärische wieder in den Fokus, wie aus dem Buch hervorgeht – denn es zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Cyberwars zwischenstaatliche Konflikte entscheiden könnten, noch bevor überhaupt ein Schuss gefallen sei. Das setzt allerdings voraus, per Hackerangriff die gegnerischen Computersysteme zu kapern und zugleich die Kontrolle über die eigenen zu behalten. Die neuen Netze erwiesen sich auf diese Weise als gefährliche Waffe, aber auch als enorme Schwachstelle.
Rid legt mit seinem Werk eine kenntnisreiche Geschichte der Kybernetik vor. Leider fokussiert er dabei (zu) stark auf den angloamerikanischen Raum. Auch lässt er weitergehende Einschätzungen der kybernetischen beziehungsweise Cyber-Entwicklung vermissen. Dennoch ist das Werk für technikhistorisch und technikvisionär interessierte Leser empfehlenswert. Denn der Autor zeigt, wie die Disziplin von ihren inneren Spannungen ebenso wie von äußeren Erwartungen und Ängsten vorangetrieben wurde. Seiner Meinung nach waren und sind die Visionen der Kybernetiker überspannt. Sowohl ihre utopischen als auch ihre dystopischen Vorstellungen seien stets am technisch Machbaren gescheitert.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben