Stimmungsmache ohne Beleg
Weshalb betrachten viele Lernen als eine lästige Pflicht, der sie nur widerwillig nachkommen? Das fragt sich der Neurobiologe Gerald Hüther. Die Begeisterung fürs Lernen schwinde bereits in den ersten Schuljahren. Schuld daran trägt seiner Meinung nach die landläufige Definition von Lernen als einem rein schulischen Vorgang, der sich an Lehrplänen entlanghangelt und Lernkontrollen umfasst.
Aus diesem Grund propagiert der Hirnforscher sieben Thesen, die zum Umdenken anregen sollen. Griffig oder gar leicht verständlich sind sie jedoch nicht, zum Beispiel "Lernen ist ein sich selbst organisierender Prozess zur Wiederherstellung von Kohärenz" oder "Lernen führt über die Herausbildung labiler Beziehungsmuster zur Ausformung stabiler Beziehungsstrukturen". Aha.
Den Faulen schlägt die Stunde
Hüther erklärt, das Leben auf Erden habe sich durch Lernprozesse entwickelt – wer sich nicht angepasst hätte, sei ausgestorben. Daher ist er der Ansicht: Lernen ist Leben; wer die Lust daran verliert, ist eigentlich tot. Diesen Schluss zieht er in seinem Buch gleich mehrmals. Zudem beschreibt der Neurobiologe, wie wir durch unsere Sozialisation, in der Menschen einander nur als Objekte begreifen würden, als einzige Lebewesen die Fähigkeit erworben hätten, die Lernfähigkeit anderer für eigene Interessen zu nutzen. Diese Unart habe sich in Naturkatastrophen und Kriegen entwickelt. Sie habe zu streng organisierten hierarchischen Gesellschaften geführt, wie wir sie in der Schule vorfänden.
Anschließend folgt ein Sammelsurium an Beiträgen, die seine Thesen stützen sollen. Hüthers Lösungsvorschläge bleiben indes sehr vage: Die Menschen müssten einander als Subjekte und auf wertschätzende Art begegnen; Bildung könne nur über persönliches Interesse, nicht durch eine Noten-Doktrin erfolgen.
Auf Quellenangaben für seine Behauptungen verzichtet der Autor und verweist stattdessen auf seine Erfahrungen, etwa im Umgang mit lernunwilligen Studenten. Gern stellt er weit hergeholte Zusammenhänge her, etwa wenn er die Lernvorgänge bei Menschen und Einzellern vergleicht oder neuronale Netzwerke und die Struktur einer Gesellschaft in Relation setzt. Einzig wenn er dem Göttinger Alzheimerforscher André Fischer unterstellt, nicht am Wohlergehen der Menschen, sondern am Profit interessiert zu sein, führt er als Beleg eine Pressemitteilung aus dem Jahr 2010 an. Seiner Linie bleibt er allerdings auch hier insofern treu, als er aus dieser Meldung Schlüsse zieht, die schlichtweg unzulässig sind.
Wer sich von dem Buch konkrete Vorschläge erhofft, wie sich Schulen in einen Ort der begeisternden Wissensvermittlung verwandeln können, dürfte enttäuscht werden. Falls man sich dagegen einen Seelenverwandten wünscht, der die Gesellschaft für die verbreitete Unlust am Lernen verantwortlich macht, ist mit dem meinungsstarken Buch gut bedient.
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