Kulturell konditionierte Affen
Nach allem, was man heute weiß, vollzog sich die Menschwerdung ganz wesentlich in kleinen Gruppen kooperierender Jäger und Sammler. Teilen, im weitesten Sinn, brachte diesen Gemeinschaften einen entscheidenden evolutionären Vorteil. Vor diesem Hintergrund möchten Psychiaterin Cacilda Jethá und Psychologe Christopher Ryan verdeutlichen, welchen kulturellen Prämissen wir heute ständig auf den Leim gehen. Sie lehnen die kulturanthropozentrische Perspektive westlicher Gesellschaften ab, wonach Monogamie eine Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens sei.
Die Autoren postulieren, es existiere eine weit verbreitete falsche Grundannahme, ein "Standardnarrativ", das die Menschwerdung erst in die Zeit seit der neolithischen Revolution verlege. Also, je nach Modell, in die zurückliegenden zehn- bis zwanzigtausend Jahre. In dieser Zeitspanne habe es eine allmähliche Entwicklung zum Kriegerischen, Besitz akkumulierenden und zur männlichen Dominanz hin gegeben. Sie habe den Boden bereitet für monogame Partnerschaftsmodelle, die nach und nach die Gesellschaft durchdrangen – mit all ihren Symptomen: besitzergreifende Eifersucht, sexuelle Frustration, Rosenkriege und Scheidungskinder.
Ryan und Jethá möchten dem entgegenstellen, dass die Menschwerdung bereits viel früher einsetzte und während der allermeisten Zeit von Empathie, Fürsorge und Kooperation geprägt gewesen sei. Ritualisierter Sex habe dazu gehört und sei nicht negativ besetzt gewesen. Geteilte Vaterschaften hätten für sozialen Frieden, genetische Vielfalt und somit Gesundheit gesorgt.
Kinder mit vielen Vätern
Diese Sicht werden viele als romantisch bezeichnen. Allerdings führen die Autoren zahlreiche Belege für ihre These an und verweisen dabei nicht nur auf prähistorische Gemeinschaften, sondern auch auf heute noch relativ abgeschieden lebende Ethnien, etwa die Mosuo. Dieses etwa 40.000 Menschen zählende Volk lebt am Lugu-See im Südwesten Chinas. Es tradiert eine jahrtausendealte Kultur und ist matrilinear organisiert, gibt Besitz und soziale Eigenschaften also über die weibliche Linie weiter. Die Mosuo leben polygam, nennen dies "wandern" und kennen keine festen Beziehungen. Frauen können mehrere Geliebte haben; sie wissen die Väter ihrer Kinder zwar in der Regel zu benennen, doch die männliche elterliche Investition ist nicht an biologische Vaterschaft geknüpft. Mosuo-Kinder wachsen in einem Geflecht sozialer Bindungen auf, in dem die Verantwortlichkeiten geteilt sind; sie haben viele Väter, obgleich der biologische für sie eine durchaus wichtige Rolle spielt.
Auch verschiedene Inuit-Kulturen knüpfen durch außereheliche Sexualbeziehungen unter verstreut lebenden Familien soziale Bindungen, die unter den widrigen arktischen Bedingungen überlebenswichtig sein können. Nebenbei halten sie mittels solcher Kontakte den Genpool frisch. Das, was nach westlicher Lesart "Ehebruch" genannt wird, sei für viele tribale Gesellschaften von Arktis bis Amazonasgebiet eine Lebensversicherung, schreiben Ryan und Jethá.
Die Autoren wollen ihr Buch jedoch nicht als evolutionär legitimierte Anstiftung zum Fremdgehen missverstanden wissen. Sie präsentieren die Polygamie nicht als Heilsversprechen. Vielmehr plädieren sie dafür, unsere – ihrer Ansicht nach – sexuell sehr aktive und polyamoröse Natur anzunehmen und nicht zu leugnen. Ryan und Jethá möchten uns einen Spiegel vorhalten, in dem wir uns als kulturell konditionierte Affen erkennen. Das tun sie sehr überzeugend und stets mit humoristischem Unterton.
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