Unsicher, enthaltsam, wissbegierig
1300 Gramm schwer ist diese Biografie Sigmund Freuds (1856–1939), verfasst vom Literaturwissenschaftler Peter-André Alt. Der Präsident der Freien Universität Berlin erzählt darin von der ehrgeizigen, aber auch einsamen Reise, die der berühmte Arzt bis zu seiner Lehre der Psychoanalyse beschritt. Dabei zeichnet er das Bild eines Mannes, der strebsam und wissbegierig, zugleich allerdings unsicher war und unter Versagensängsten litt. Freud sei Theoretiker gewesen und habe den Weg aus dem Labor in die Praxis nur aus pragmatischen und monetären Gründen eingeschlagen, zunächst jedoch weder Gefallen an der Arbeit mit Patienten gefunden noch ein Gespür für diese und ihre Diagnosen besessen. Über Umwege sei er in die Neurologie gelangt, wo er schließlich weiterhin forschen durfte.
Alt hat für seine Biografie unzählige Tagebucheinträge, Briefe, fachliche Arbeiten Freuds sowie Schriften zur Psychoanalyse ausgewertet. Er beschreibt den österreichischen Arzt mit all seinen Macken, Ansichten und Antrieben. Indem man über die Irrungen und Wirrungen an Freuds Wegesrand erfährt, etwa seine Misserfolge mit der Hypnose, sein Vorbild Jean-Martin Charcot oder seinen Irrglauben über die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch, versteht man besser, wie er zu seiner Sexual- und Triebtheorie sowie zu anderen Annahmen der Psychoanalyse kam.
Nahaufnahme
Der anekdotische Charakter verleiht dem Wälzer einen hohen Unterhaltungsfaktor. So liest sich die Biografie wie ein Roman: Da gibt es Spannung, Komik, Familiendramen. Beschreibungen von Freuds Emotionslosigkeit und seiner mangelnden Romantik auf der einen Seite, von der Schlagfertigkeit seiner Ehefrau Martha auf der anderen Seite lassen schmunzeln. Stellenweise geht die Detailliebe des Autors jedoch zu weit. Um Freud und die Psychoanalyse zu verstehen, muss man nicht um jede seiner Urlaubsreisen oder um jede Beziehung zu Freunden in solch einer Ausführlichkeit wissen. Außerdem häufen sich Wiederholungen. Es kann nerven, zum dritten Mal über Freuds Ansicht zu erfahren, Coitus interruptus könne Neurosen verursachen.
Eine These des Autors macht hingegen stutzig: Laut Alt hat der Neurologe den größten Teil seines Lebens enthaltsam gelebt, und durch diese Abstinenz sei er überhaupt erst in der Lage gewesen, seine revolutionäre Sexualtheorie zu entwickeln. Es stellt sich die Frage, ob Alt einzig aus von Freud verfassten Briefen und Tagebucheinträgen auf dessen Enthaltsamkeit schließt oder ob es noch andere Hinweise darauf gibt. Außerdem bleibt unklar, weshalb der Begründer der Psychoanalyse bei der Entwicklung seiner Sexuallehre davon hätte profitieren können.
Wen Wiederholungen, Nebensächlichkeiten und manch gewagte These nicht abschrecken, der erfährt in diesem leicht zu lesenden Werk viele interessante und unterhaltsame Details aus dem Leben des großen Psychoanalytikers.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben