Große Versprechen - und wenig dahinter?
Was Joachim Müller-Jung beschreibt, klingt oft nach Sciencefiction: Menschen, die aus umprogrammierten Hautzellen entstehen; Organe, die selbstständig im Körper nachwachsen; Gehirne, die in der Petrischale gezüchtet werden. Es handelt sich hier zwar nicht um existierende Verfahren, doch an ihrer Umsetzung wird bereits gearbeitet. Daher müssen wir uns jetzt damit befassen, mahnt der Autor – bevor diese Techniken in der Humanmedizin zur Routine werden.
Müller-Jung schildert ausgewogen und dennoch kritisch, wie der Mensch in den zurückliegenden Jahrzehnten immer mehr zum "biotechnischen Großprojekt" wurde. Die Möglichkeiten der Stammzellforschung ließen die Hoffnung keimen, irgendwann alle Krankheiten besiegen und sogar den Alterungsprozess aufhalten zu können. Inwiefern diese Vision erstrebenswert oder vielleicht doch eher erschreckend ist, erörtert der Autor sehr präzise.
Seit knapp zwanzig Jahren arbeitet der studierte Biologe als Journalist; seit 2003 leitet er das Ressort Natur und Wissenschaft bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Immer wieder berichtete er über neue Entwicklungen in der Stammzellmedizin und befragte führende Forscher auf diesem Gebiet in Interviews. Mittlerweile verfügt er über beachtliche Fachkompetenz, die man seinem Buch anmerkt.
Kopf ab? Für Plattwürmer kein Problem
Des Autors Grundthema sind die verschiedenen Arten von Stammzellen sowie die medizinischen Möglichkeiten, die sie bieten – vor allem beim Behandeln vererbter oder chronischer Erkrankungen. Da jeder Mensch laut Müller-Jung mindestens 200 Erbanlagen besitzt, von denen das Risiko einer Erkrankung ausgeht, liegt ein Ende der Gesundheitsprobleme im Bereich der Utopie – zumindest mit gegenwärtigen medizinischen Mitteln. Die Stammzellforschung hat sich daran gemacht, die "riskantesten" Erbanlagen zu verbessern und bisher unvermeidliche Leiden zu verhindern. Zudem wollen Forscher jene Mechanismen der natürlichen Regenerationsfähigkeit durchschauen, über die etwa Amphibien und Wirbellose verfügen. So wächst dem Plattwurm bei Bedarf der komplette Kopf nach – eine nützliche Eigenschaft, die, übertragen auf Organe wie Nieren und Leber, Transplantationen in vielen Fällen überflüssig machen könnte.
Müller-Jung beschreibt jedoch auch, wie schwierig die Übertragung neuer Erkenntnisse und Verfahren vom Labortier auf den Menschen ist. Er stellt den Leser vor die Frage, ob alles, was möglich ist, auch wünschenswert sei. Seiner Ansicht nach gerät die Menschlichkeit in den Hintergrund, wenn Ärzte zu "Humaningenieuren" werden.
Körperperfektionierung statt Krankheitsvermeidung
Die Entwicklungen in der Stammzellforschung behandelt der Autor nicht isoliert, sondern ordnet sie in den gesellschaftlichen Kontext ein. Befördert durch ein gewachsenes Gesundheitsbewusstsein habe eine Industrialisierung der Körperkultur begonnen, schreibt er. Die neuen Möglichkeiten in der Medizin schürten immer neue Bedürfnisse – nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein perfekt funktionierender Körper sei das Ziel. Da Stammzelltherapien teuer und langwierig sind, sieht der Autor die Gefahr einer Zwei-Klassen-Medizin. Schwer kranke und hochgradig verzweifelte Menschen stellten eine extrem profitträchtige Zielgruppe für die Gesundheitsindustrie dar. In asiatischen Ländern habe sich bereits ein "Stammzelltourismus" entwickelt – obwohl die dort durchgeführten Verfahren noch gar nicht ausreichend getestet sind. Der intensive Wettbewerb in der Stammzellmedizin führe mittlerweile zur Vernachlässigung von Forschungsstandards.
Müller-Jung wägt gründlich ab zwischen Hoffnung und Skepsis. Er zeigt neue Möglichkeiten auf, beleuchtet aber auch eindringlich die Risiken und Unsicherheiten, etwa den Zusammenhang zwischen Stammzelltherapie und bösartigen Tumoren. Am Ende steht der Leser vor der Frage, ob ein Ende aller Krankheit erstrebenswert ist – und wo wir der regenerativen Medizin ethische Grenzen setzen sollten.
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