Die Vermessung der Willenskraft
Walter Mischel ist ein Urgestein der wissenschaftlichen Psychologie. 1930 in Wien geboren, floh er als 8-Jähriger mit seiner Familie vor den Nazis und fing in den USA ein neues Leben an. Es sollte ein erfolgreiches werden, obwohl Mischel von sich selbst sagt, er sei nicht gerade der disziplinierteste Geist.
Nach Studium und Promotion in klinischer Psychologie wirkte er ab den 1960er Jahren vor allem an der Stanford University in Kalifornien sowie später an der Columbia University in New York. In seiner langen Laufbahn gab er der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie viele Anstöße. Der Nachwelt in Erinnerung bleiben dürfte er aber vor allem für jene Studienserie, die als das "Marshmallow-Experiment" berühmt wurde.
Verlockung des Köstlichen
In einem eigens eingerichteten "Überraschungszimmer" an der Universität in Stanford stellten Mischel und sein Team Kinder verschiedenen Alters vor die Wahl: Entweder die Kleinen nahmen eine Süßigkeit, die vor ihrer Nase platziert war, sofort an, oder sie warteten auf die Rückkehr des Versuchsleiters, der den Raum verlassen hatte, um bei dessen Wiederankunft die doppelte Ration zu erhalten. Die Kinder standen vor der Wahl: lieber ein Marshmallow sofort oder zwei später? Dieser simple Test sollte die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub prüfen – eines, wie man glaubte, festen Indikators für die Willensstärke. Wie der weitere Lebensweg der Kinder offenbarte, erzielten jene, die der Versuchung leichter widerstanden hatten, später im Schnitt bessere Schulnoten und Bildungsabschlüsse, waren kompetenter im sozialen Umgang und bewältigten Stress eher.
Heißt das, der Erfolg oder Misserfolg eines Menschen ist vorgezeichnet und vor allem eine Frage der Selbstbeherrschung? Mischel verneint das. Die Ergebnisse seines Tests seien zwar vielfach so interpretiert worden, das sei aber falsch. Das vorliegende Buch habe er geschrieben, um diese Fehldeutung zu berichtigen. "Es gibt keinen Automatismus, das Ergebnis im Marshmallow-Test lässt nicht zwangsläufig darauf schließen, ob ein Kind später ein gutes Leben, Glück und Erfolg haben wird", stellt der Autor gleich auf der ersten Seite klar. Insbesondere widerspricht Mischel der Idee, Selbstdisziplin sei ein festes, erblich bedingtes Charaktermerkmal, wobei er auf zahlreiche Untersuchungen verweist. Diese zeigten, dass Willensstärke und Selbstbeherrschung je nach Situation stark schwanken. Es komme ganz auf die Umstände und unsere jeweilige Motivlage an.
Gekonnt an Anderes gedacht
Die Bekanntheit des Marshmallow-Experiments gründet nicht zuletzt auf den putzig anzusehenden, kleinen Probanden, die man mit versteckter Kamera filmte, während sie der Verlockung zu widerstehen versuchten. Manche inspizierten die Süßigkeit genau, andere rutschten unruhig auf ihrem Stuhl hin und her oder pfiffen ein Lied, um sich abzulenken. Laut Mischel entscheide weniger die Willenskraft selbst über den Erfolg des Entsagens als vielmehr die Fähigkeit, sich im richtigen Moment auf andere Gedanken zu bringen. Nicht Fokussierung auf das Ziel, sondern bedarfsweise Ablenkung sei das Erfolgsrezept: eine Nachricht, die eifrige Selbstoptimierer aufhorchen lassen sollte.
In 20 Kapiteln befasst sich Mischel mal enger, mal weiter gefasst mit dem Marshmallow-Experiment und seinen Folgen. Dabei streut er immer wieder Fallbeispiele und Anekdoten aus seiner Forscherkarriere ein, führt jedoch keine dieser Episoden länger aus oder entwickelt daraus einen roten Faden. So gleicht sein Bericht eher einem großen Puzzle als einer geschlossenen Erzählung.
Trotz dieser dramaturgischen Schwächen liest man Mischels Ausführungen mit Gewinn. Die Studien, über die er berichtet, reichen von den späten 1950er Jahren bis in die heutigen Tage und umreißen die gesamte Forschung zur Willensstärke. Besonders wichtig ist Mischel der Hinweis, dass sich Wille und Durchhaltevermögen trainieren lassen – ein weiteres Argument gegen die vermeintliche "Lotterie der Gene", die den einen zum guten Selbstbeherrscher mache und den anderen zum Opfer seiner Impulse. Ganz so einfach ist der Erfolg im Leben dann doch nicht vorherzusagen.
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