Wohin wir steuern
Am 6. Mai 2010 erlebte die Börsenwelt einen Schock, als der Dow-Jones-Index in New York binnen weniger Minuten um 1000 Punkte fiel. Schon eine Viertelstunde später hatte er beinahe wieder seinen Ausgangswert erreicht. Marktrelevante Nachrichten, die den Vorgang hätten erklären können, lagen nicht vor. Die Ursache für den Absturz fand man erst nach monatelanger Recherche in einem komplexen Wechselspiel zwischen Computeralgorithmen.
Wie das Ereignis zeigt, steuern vielfach nicht mehr Händler das Börsengeschehen, sondern weltweit vernetzte Supercomputer, die Transaktionen in Mikrosekunden ausführen. Ihre Geschwindigkeit und Komplexität haben trotz wirtschaftlicher Vorteile einen Preis: Einzelne Vorgänge sind nur noch schwer nachvollziehbar und das Risiko von Fehlentwicklungen ist groß. Folgerichtig sieht Al Gore die stark vernetzte, beschleunigte Weltwirtschaft als maßgebliche Triebkraft eines tiefgreifenden Wandels, den die Welt durchläuft. Auch das rasant wachsende globale Kommunikationsnetz zählt er dazu. PCs, Tablet-Computer und Smartphones würden die Nutzer quasi von überall aus und jederzeit mit dem Netz verbinden.
Tanz am Abgrund
Al Gore warnt vor intensiver werdenden Spannungen zwischen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Institutionen, sowie vor gefährlich hohen Raten des Wirtschaftswachstums. Der zunehmenden Weltbevölkerung, der Expansion der Städte und der Wirtschaftsentwicklung stünden ein nicht nachhaltiger, wachsender Ressourcenverbrauch und immer größere Umweltzerstörungen gegenüber. Problematisch sei mitunter auch das Aufkommen neuer biologischer und genetischer Techniken. Aufgrund des Gewinnstrebens mächtiger Unternehmen würden etwa gentechnische Veränderungen von Nutzpflanzen große Risiken für die Nahrungsmittelversorgung mit sich bringen. Damit all diese Entwicklungen die Menschheit nicht in den Abgrund stürzten, sei eine Neuorientierung der Zivilisation im Hinblick auf das globale Ökosystem dringend erforderlich.
Gore, der unter Bill Clinton Vizepräsident der USA war und im US-Präsidentschaftswahlkampf 2000 seinem Herausforderer George W. Bush nach umstrittener Stimmenauszählung unterlag, ist durch sein Engagement gegen den anthropogen verursachten Klimawandel bekannt geworden. Dafür erhielt er 2007 den Friedensnobelpreis gemeinsam mit dem Weltklimarat (IPPC). Zwar erörtert er auch in seinem neuen Buch ausführlich Treibhauseffekt und Klimaschutz, geht aber noch weit darüber hinaus. Sehr detailliert arbeitet er die aktuellen Missstände des kapitalistischen Wirtschaftssystems heraus und kritisiert das kurzsichtige Agieren von Unternehmern, die sich an Bonuszahlungen orientieren. Zudem geißelt er das immer stärkere Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögensschere.
Obszönes Anhäufen von Vermögen
Kapital, schreibt der Autor, akkumuliere zunehmend an der Spitze der Einkommenspyramide, werde aber – entgegen gängiger Wirtschaftstheorien – nicht unternehmerisch reinvestiert, so dass Arbeitsplätze verloren gingen. Verstärkt werde diese Entwicklung durch fortschreitende Ersetzung des Menschen durch Maschinen. Die "oberen" paar Promille der Menschheit erfreuten sich eines absurden Reichtums, während mehr als eine Milliarde Menschen von weniger als 2 Dollar täglich leben müssten. Diese Probleme harrten dringend einer Lösung – genauso wie die konfliktträchtige Schwächung der Nationalstaaten, bedingt durch die Machtzunahme multinationaler Konzerne. Selbst das staatliche Gewaltmonopol werde vielfach an Unternehmen abgetreten.
Für Gore sind Kapitalismus und Demokratie dringend reformbedürftig. "Die Entscheidung über unsere Lebensweise wird darüber bestimmen, ob die Reise [in die Zukunft] uns mitnimmt, oder ob wir selbst die Reise unternehmen." Im Schlusskapitel seines Buchs fordert er die Einführung von Nachhaltigkeit in die kapitalistische Marktwirtschaft sowie eine Neugestaltung von Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft. Statt sich auf die bisher üblichen Berechnungen von Wachstumszahlen zu verengen, sollten auch Umweltverschmutzung und CO2-Ausstoß einen marktwirtschaftlichen Wert erhalten, indem sie besteuert und in unternehmerischen Kennzahlen berücksichtigt werden.
Plädoyer für US-Führung
Da wirtschaftliche und gesellschaftliche Eliten die demokratische Entscheidungsfindung bereits zu stark dominierten, schreibt Gore, müssten sie in ihrem Einfluss auf öffentliche Debatten beschnitten werden. In dem bevorstehenden, notwendigen Wandel sieht er die Welt "mehr denn je auf die intelligente, klare, wertorientierte Führung durch die USA angewiesen, zumal eine sinnvolle Alternative nicht in Sicht" sei. Hier zeigt sich Gore als nationaler Patriot, doch muss man ihm zugestehen, dass er die amerikanische Politik kritisiert und ihr bescheinigt, sie müsse ihr beschädigtes Renommee erst wieder herstellen, um glaubwürdig zu sein.
Unabhängig davon, ob man Gores Ansichten zur Führungsrolle der USA teilt: Das Buch bietet eine gründlich recherchierte Faktensammlung und umreißt präzise die gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und naturwissenschaftlich-technischen Entwicklungen der Gegenwart und der Zukunft. Zwar leidet die Lesbarkeit etwas unter der Fülle des präsentierten Materials und der Komplexität der Themen. Doch es bietet eine gute Diskussionsgrundlage dazu, wie die Menschheit ihr Dasein künftig gestalten möchte.
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