Praktische Philosophie des Tierschutzes
Tiere leiden nach wie vor im großen Stil – auch wenn längst ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht, dass ihnen keine vermeidbaren Schmerzen zugefügt werden sollten. Immer noch begegnet der Mensch Tieren zumeist in ausbeuterischer oder gar zerstörerischer Absicht. Ein bedrückender Umstand, den Ursula Wolf zum Anlass nimmt, die ethischen Dimensionen des Problems neu auszuloten.
In der Verfassung Neuseelands genießen Menschenaffen Menschenrechte. Ansonsten hat der Tierschutz nur in Deutschland und in der Schweiz den Rang eines verfassungsmäßig verbrieften Staatsziels. Artikel 20a des deutschen Grundgesetzes stellt seit 2002 die Tiere neben den natürlichen Lebensgrundlagen explizit unter den Schutz des Staates. Und die schweizerische Bundesverfassung spricht sogar vom "Schutz der Würde der Kreatur". Die schnöde Praxis ist von diesen hehren theoretischen Ansprüchen weit entfernt. Bei objektiver Betrachtung tut sich eine Gerechtigkeitslücke auf – mehr noch: ein moralischer Abgrund.
So nimmt der Verbrauch an Tieren für die menschliche Ernährung dramatisch zu. Mittlerweile summiert sich die Zahl der Nutztiere in industrieller Haltung weltweit auf 450 Milliarden – mehr als 60 für jeden Erdbewohner. Zudem leisten jährlich rund 100 Millionen Wirbeltiere einen mehr oder weniger qualvollen Beitrag zum menschlichen Erkenntnisgewinn. Allein in Deutschland wurde 2010 mit 2,84 Millionen Tierversuchen ein neuer Rekord aufgestellt. Im Jahr 2000 waren es noch 1,8 Millionen.
Ursula Wolf, Professorin für Philosophie an der Universität Mannheim, macht dem Menschen weder das Recht auf Nahrung noch die Freiheit der Forschung streitig. Ihr geht es auch nicht darum, Missstände und Verantwortungslosigkeiten lediglich anzuprangern. Vielmehr möchte sie grundsätzlich abklären, "ob wir moralische Verpflichtungen gegenüber Tieren haben und in welchem Sinn und in welcher Stärke".
Die Autorin skizziert zunächst die wichtigsten moralphilosophischen Ansätze von der Antike bis zur Gegenwart. Dazu gehören etwa Platons Konzeption des Guten, Immanuel Kants aus der Vernunft geborener Imperativ, Arthur Schopenhauers altruistische Mitleidsmoral oder Peter Singers "Animal Liberation", welche die utilitaristisch-egalitaristische Einbeziehung der Tiere in die Moral einfordert. Wolf arbeitet aus alledem einen zeitgemäßen theoretischen Ansatz heraus, der es zumindest erleichtern soll, im alltäglichen Handeln künftig mehr Rücksicht auf das Wohlbefinden der Tiere zu nehmen.
Wolf möchte ihre philosophische Erläuterung "eines durchdachten und konsistenten tierethischen Standpunkts" nicht als theoretische Übung, sondern als Fundament für das konkrete praktische Handeln verstanden wissen. Ihre Moralkonzeption des generalisierten Mitleids lehnt sich zwar an Schopenhauer an, geht jedoch über dessen einfache Mitleidsmoral hinaus. Bei aller Anerkennung der Tiere als empfindungs- und leidensfähige Wesen trägt sie dem Unterschied zwischen Mensch und Tier Rechnung. Selbst wer Tiere als moralische Wesen ansieht und etwa Menschenrechte für Menschenaffen fordert, muss ihnen deshalb noch längst nicht die Rechte von Staatsbürgern zugestehen.
Allerdings könnte man meinen: Wenn alle Tiere "ein moralisches Recht auf Beachtung der Grundbedingungen ihres Wohlbefindens" haben, dann müsste man ihnen eigentlich auch "das Leiden und die Angst, welche Raubtiere den anderen Tieren zufügen", ersparen. Der wesentliche Unterschied zwischen uns und den Raubtieren besteht jedoch nicht im Leid der Opfer, sondern darin, dass letztere keine moralischen Akteure sind. Einzig der Mensch kann sich selbst die Pflicht auferlegen, Leid zu begrenzen.
Entscheidend für das Gewicht – und die Grenzen – der Moral ist letztendlich die Perspektive der jeweils handelnden Person. Ob es um Massentierhaltung, Tierversuche, Jagd, Zirkus oder Tiere im Zoo geht – erst in der konkreten Situation erweist sich, wer etwa für bessere Haltungsbedingungen auch einen höheren Preis für Tierprodukte akzeptiert oder sogar zur Einschränkung seines Fleischkonsums bereit ist.
Dafür, dass der Mensch sich herausnimmt, Tiere nahezu beliebig für seine Zwecke zu gebrauchen, sind allerdings nicht nur Gleichgültigkeit und Egoismus verantwortlich. Die alltägliche Moral, so Wolf, ist vielmehr immer noch von der tief verwurzelten Vorstellung geprägt, dass der Mensch in besonderer Weise ein wertvolles Wesen sei – so wertvoll, dass andere Wesen allein zu seinem Nutzen erschaffen worden sind. Doch unter dem moralischen Status, den Wolf dem Menschen zuschreibt, versteckt sich nicht irgendeine obskure Werteigenschaft, die andere Wesen nicht haben. Er bedeutet lediglich, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier unter bestimmte moralische Normen fällt: "Dass auf verschiedenartige Wesen teilweise verschiedene Normen anwendbar sind, und nicht auf jedes alle, heißt nicht, dass diese Wesen in ihrem Status oder Wert verschieden sind, sondern ist einfach eine Folge ihrer unterschiedlichen Ausstattung bzw. der unterschiedlichen Beziehungen zwischen ihnen." Tiere zählen also nicht weniger als der Mensch, nur weil sie jene moralische Dimension des Lebens nicht haben. Der alles entscheidende Punkt ist, dass Tiere eine uns vergleichbare Leidensfähigkeit haben. Daher gibt es für Wolf auch "keinen Grund, Tiere in den Hinsichten, die sie mit uns teilen, schwächer zu gewichten".
Ein außerordentlich kluges Buch, das jedem Leser zur Einsicht verhilft. Ob die Lektüre auch den Tieren nützt, bleibt indes ungewiss. "Die Mehrheitsauffassung", so Wolfs illusionsfreie Einschätzung, "ist wohl immer noch diejenige, dass das Wohlbefinden der Tiere zwar beachtet werden sollte, aber nur dort, wo dies für uns zu keinerlei Verzicht führt."
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