Warum gibt es die Welt? Die Evolution des Kosmos.
Das Standardmodell der Kosmologie ist von bemerkenswerter Erklärungskraft. Die Theorie, das Universum sei im Urknall, einem singulären Zustand unendlicher Dichte und Temperatur, entstanden und seither in ständiger Expansion begriffen, paßt bis jetzt zu allen kosmologischen Beobachtungen. Sie erklärt auf einfache Weise die kosmische Hintergrundstrahlung im Mikrowellenbereich, die Häufigkeit der leichten Elemente Wasserstoff, Deuterium und Helium, Entstehung und Entwicklung der Sterne und Galaxien und vieles mehr. Dies stärkt das Zutrauen der Astrophysiker in diese Theorie enorm. Natürlich hat das Standardmodell seine Grenzen (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1999, S. 40). Der Urknall selbst bleibt rätselhaft. Das Modell erklärt auch nicht, warum die Welt so ist, wie die Astronomen sie vorfinden, obwohl nach den physikalischen Gesetzen eine Vielzahl von Welten denkbar ist. Mögliche Antworten werden unter dem Stichwort "Anthropisches Prinzip" diskutiert: Die Entwicklung von Leben unserer Art wäre unmöglich, wenn die physikalischen Gesetze und die Werte der Naturkonstanten merklich von den im Labor festgestellten abweichen würden. Also sind zumindest Lebewesen wie wir außerstande, ein wesentlich anderes Universum zu beobachten als das unsrige. An dieser Stelle setzt Lee Smolin in seinem Buch an. Der 42jährige Professor für Physik an der Pennsylvania State University bemerkt zu Recht, daß das anthropische Prinzip lediglich auf Punkte hinweist, in denen Erklärungsbedarf besteht, selbst jedoch nichts erklärt. Auch die Idee, jedes mögliche Universum existiere tatsächlich und unter dieser unvorstellbaren Zahl von Welten befinde sich zwangsläufig auch die für uns passende, scheint eher die Kapitulation vor diesen Fragen und nicht ein Erklärungsversuch zu sein. Smolin will sich damit nicht zufriedengeben, und so entwickelt er seine Idee der "natürlichen kosmischen Auslese" – eine Analogie zur Darwinschen Theorie der Evolution: Könnten nicht die genaue Abstimmung der Naturkonstanten, die für unser reich strukturiertes Universum eine notwendige Voraussetzung ist, oder gar die physikalischen Gesetze selbst Resultat eines Entwicklungsprozesses sein? Die Idee unterstellt – wider alle bisherige Physik –, daß die Naturgesetze selbst veränderlich seien; und die einzige Stelle, an der eine solche Veränderung stattfinden kann, ist in den Schwarzen Löchern, beim unaufhaltsamen Sturz der Materie in eine Singularität. Nach der klassischen Theorie handelt es sich um einen Punkt mit unendlicher Massendichte, aber vielleicht wird dieses Verhalten durch quantenmechanische Effekte geändert. Wir wissen nicht, was im Inneren der Schwarzen Löcher vor sich geht. Das ist letztlich darauf zurückzuführen, daß bislang alle Versuche, die Quantentheorie und die Allgemeine Relativitätstheorie in einer einheitlichen, grundlegenden Theorie zu vereinen, gescheitert sind. Bemerkenswerterweise haben diese Mißerfolge einige Forscher veranlaßt, die Lösung aller Rätsel im Urknall und in den Schwarzen Löchern zu suchen. Smolin spekuliert nun, daß sich der Kollaps, sobald eine sehr hohe Dichte erreicht ist, in eine Expansion, einen Urknall umkehren könnte. In dem neu entstehenden Universum würden möglicherweise die physikalischen Gesetze von den bisher gültigen abweichen. Es entsteht also in den Schwarzen Löchern eine Population von Universen; jedes unter ihnen ist ein wenig verschieden von den anderen. Wie beim Wachsen von Bakterienstämmen wären am Ende die häufigsten Universen diejenigen, die sich am besten vermehren, das heißt ihrerseits die meisten Schwarzen Löcher hervorbringen. Wir selbst befinden uns deshalb – mit hoher Wahrscheinlichkeit – in einem vermehrungsfreudigen Universum. Das ist eine Darwinsche Theorie der Evolution von Universen. Phantastisch, aber zunächst nicht einmal falsch, denn solange es keine Theorie der Quantengravitation gibt, kann über das Innenleben eines Schwarzen Loches frei verfügt werden. Sogar ein komplettes Universum läßt sich dort unterbringen. Durch den Horizont des Schwarzen Loches dringt kein Signal nach draußen. Dies macht die Theorie immun gegen Beobachtungstests. Allenfalls die Behauptung, das Universum sei so beschaffen, daß es eine Maximalzahl Schwarzer Löcher hervorbringt, ließe sich eventuell überprüfen. Andererseits verändert die Aufhebung der Singularität auch den Ereignishorizont, jene Grenze um ein Schwarzes Loch, die weder Materie noch Information durchläßt. Es könnte damit auch eine Verbindung zwischen Innen- und Außenraum bestehen, was Auswirkungen auf Smolins Überlegungen haben müßte. Eigentlich ist seine Evolutionstheorie wieder nur das durch die Schwarzen Löcher aufgerüstete anthropische Prinzip. Einfacher wäre es wohl, ein unendliches Universum mit einer räumlichen Variation der physikalischen Gesetze und Konstanten zu postulieren. Wir würden darin den Teilbereich bevölkern, der für die Entstehung von Leben günstige Bedingungen bietet. Außerdem ist es nicht zwingend erforderlich, das Universum als typischen Fall zu verstehen. Diese einzigartige Konfiguration könnte ja auch ein statistisch äußerst unwahrscheinliches Ereignis sein. Das Buch liest sich amüsant – wenn man gründliche Vorkenntnisse in Astrophysik und Kosmologie hat, denn die relevanten Fakten werden sehr leger und oft nur in Andeutungen vorgestellt. Der optimistische Grundton und das vergnügte Drauflosspekulieren wirken auf den Leser recht anregend. Nach den ersten hundert Seiten ist eigentlich alles gesagt. Danach zerfasert der Text etwas, der rote Faden ist nicht leicht zu finden. Einige der astrophysikalischen Argumente sind überholungsbedürftig, etwa wenn Smolin den Eindruck erweckt, erst durch die Biologie sei die Bedeutung von Rückkopplungswirkungen in der Astrophysik klar geworden. Welchen Wert haben solche Überlegungen? Sie gehören nicht zur Physik, denn nichts daran ist durch Experimente prüfbar. Hier handelt es sich um Metaphysik – wie es zu erwarten ist, wenn es um das Verständnis der Welt als Ganzes geht. Die Kosmologen sind eben die wahren Philosophen, die noch – wenn auch in wilden Spekulationen – nach einem vollständigen Weltbild streben. Das Selbstverständnis dieser Forscher wird beleuchtet durch eine Anekdote über Wolfgang Pauli (1900 – 1958), einen der berühmtesten theoretischen Physiker dieses Jahrhunderts. Pauli ist gestorben, kommt in den Himmel, trifft Gott und meint: "Jetzt kann ich endlich alles erfahren über die Physik und über den Urknall. Hier ist die Tafel, bitte sehr!" Der liebe Gott beginnt zögernd eine Gleichung anzuschreiben, doch Pauli stürzt sofort an die Tafel, wischt mit dem Schwamm alles aus. "So geht’s nicht! Das habe ich schon probiert."
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