Mekka der Teilchenphysiker
Viele Tausend Physiker und Ingenieure arbeiten am CERN, der europäischen Organisation für Kernforschung in Genf. Hervorgegangen ist sie aus dem Bemühen europäischer Physiker, nach Ende des zweiten Weltkriegs eine eigene Großforschungseinrichtung zu etablieren, um mit dem rasanten Fortschritt der amerikanischen Kollegen mithalten zu können. Diese Anstrengungen mündeten 1952 in die Gründung des CERN, und in den darauf folgenden 60 Jahren entwickelte sich der Standort Genf zum unangefochtenen Mekka der Teilchenphysiker.
Die Forscher am CERN haben verschiedene Teilchenbeschleuniger entwickelt und betrieben; aktuell arbeiten sie mit dem "Large Hadron Collider". Im Lauf der Zeit gelang es, Teilchen in solchen Anlagen auf immer höhere Geschwindigkeiten zu beschleunigen und mit immer größeren Energien zusammenstoßen zu lassen. In den entstehenden "Explosionswolken" fanden sich Hinweise auf zahlreiche neue Teilchen. Am bedeutendsten waren wohl die Entdeckung der W- und Z-Bosonen vor rund 30 Jahren (sie vermitteln die elektroschwache Wechselwirkung) und natürlich der Nachweis des Higgs-Bosons im vergangenen Jahr (es spielt eine Rolle in dem Mechanismus, über den Elementarteilchen ihre Masse erhalten). Beide Entdeckungen wurden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Wer sind die Menschen hinter diesem gigantischen Forschungsunternehmen? Das ist die Leitfrage des Buchs. Der Autor leuchtet zunächst aus, welche wissenschaftliche und politische Bedeutung die Gründung des CERN hatte. Die Kernforschungsorganisation, schreibt er, war das erste europäische Großprojekt überhaupt, und es sei bemerkenswert, dass sich die europäischen Politiker keine zehn Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs darauf verständigten. Umso mehr, da durchaus nicht alle europäischen Forscher von dieser zentralen Einrichtung überzeugt waren. Führende britische Physiker etwa sprachen sich dagegen aus, weil sie ihre nationale Unabhängigkeit wahren wollten. Auch der berühmte Physiker Niels Bohr (1885-1962) gab einer Stärkung seines Kopenhagener Instituts den Vorzug gegenüber einem gesamteuropäischen Zusammenschluss in Genf. Dieser Teil des Buchs liest sich sehr spannend, und Krause arbeitet solide heraus, welche immense politische Tragweite die Initiative der Physiker hatte.
Im weiteren Verlauf präsentiert das Werk sowohl Interviews mit CERN-Forschern als auch kurze Abrisse der Physikgeschichte. Hier ist manches zu bemängeln. Der Fokus liegt klar auf den Interviews, die den Namen jedoch kaum verdienen. Sie wirken nicht wie Gespräche, sondern eher wie das Abarbeiten vorbereiteter Fragelisten. Die Antworten fallen häufig sehr lang aus, da die Interviewpartner immer wieder in Details der Teilchenphysik abschweifen. Oft geschieht das im Duktus eines Lehrmeisters, nur manchmal scheint die menschliche Seite der Befragten durch.
Manche Fragen hätte der Autor einfach weglassen sollen – etwa die, welche Frucht der Struktur des Universums am meisten ähnelt: Nuss, Granatapfel oder Zwiebel. Da leider keine davon für eine gute Analogie taugt, wirken die Antworten der Forscher durchweg verlegen. Wenig Erhellendes fördert auch die Erkundigung zutage, ob denn nicht die Kantine des CERN ein besonderer Ort sei, an dem außergewöhnlich viele gute Ideen entstünden. Dies bejahen die Interviewten zwar brav, doch was man daraus lernen kann, bleibt offen.
Die kurzen Ausflüge in die Physikgeschichte beginnen bei Galileo Galilei (1564-1642) und enden bei der Suche nach dem Higgs-Boson. Hier erfährt der Leser in sehr geraffter Form, wie es gelang, mehr und mehr physikalische Theorien zu vereinigen, um schließlich das Standardmodell der Teilchenphysik zu erschaffen. Wer sich nicht zu sehr für Details interessiert, dem wird diese Zusammenschau gefallen.
Die größte Schwäche des Werks liegt allerdings darin, dass es erkennbar veraltet ist. Bereits am 4. Juli des vergangenen Jahres verkündeten Vertreter des CERN den (damals noch mutmaßlichen) Nachweis des Higgs-Bosons – eine Entdeckung, die inzwischen mit dem Nobelpreis honoriert wurde. Trotzdem spekulieren die Personen in diesem kürzlich erschienen Buch noch darüber, was denn eine mögliche Entdeckung bedeuten würde. Der schlichte Grund: Die Interviews fanden vorher statt. Dieser Umstand lässt den Band bereits jetzt in großen Teilen wie von gestern erscheinen. Eigentlich erstaunlich, dass Autor und Verlag es nicht geschafft haben, aktueller zu sein.
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