Artenvielfalt: Was wir über das Insektensterben wissen - und was nicht
Es gibt weniger Schmetterlinge in unserer Landschaft, weniger Bienen, Hummeln und andere Insekten – ihr Schwund ist Besorgnis erregend. Viele Menschen haben diesen Eindruck schon länger. Sie wundern sich, warum auch bei langen Autofahrten die Windschutzscheibe sauber bleibt und warum auf Wiesen kaum ein gaukelnder Falter zu sehen ist. Im Herbst 2017 behaupteten der Entomologische Verein Krefeld und Wissenschaftler zweier Universitäten, diese Vermutungen bestätigen zu können. Messdaten aus 27 Jahren zeigten einen Rückgang der Biomasse fliegender Insekten um 75 Prozent. Doch wie verlässlich sind diese Zahlen? Und was muss passieren, um die Veränderungen in der Natur wirklich zu verstehen und zielgerichtet handeln zu können?
Sind die Krefelder Ergebnisse überhaupt zuverlässig – oder sind sie vielleicht isolierte Einzelfälle?
Die »Krefelder Studie«, die in den Medien ein breites Echo fand, stützt sich auf eine nach dem Entomologen René Malaise (1892-1978) benannte Messmethode. Ein Zelt wird in freier Landschaft aufgestellt mit dem Ziel, dass Insekten sich darin im Flug verfangen und in einer Alkohollösung landen. Solche Malaise-Fallen haben die Mitarbeiter des Entomologischen Vereins Krefeld, in dem sich viele Naturwissenschaftler und auch ausgebildete Entomologen in ihrer Freizeit engagieren, über 27 Jahre hinweg an insgesamt 63 Standorten in Schutzgebieten in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Brandenburg aufgestellt.
Sie werteten anschließend insgesamt 1500 einzelne Messungen aus. Besonders extrem fiel die Entwicklung im Schutzgebiet Orbroicher Bruch aus, wo die in einem Jahr gefangene Biomasse von 1,4 Kilogramm auf nur noch 300 Gramm zurückgegangen ist. In Medienberichten war allerdings häufig davon die Rede, dass die Artenvielfalt oder die Zahl der Insekten um 75 Prozent abgenommen habe. Dies trifft nicht zu. Gemessen wurde allein die Biomasse, weshalb ein Rückgang zum Beispiel bei schwereren Käfern deutlich stärker ins Gewicht fiel als etwa ein Rückgang von Mückenarten.
Umstritten ist die Studie, weil an keinem der Orte über 27 Jahre hinweg kontinuierlich gemessen wurde. In den meisten Fällen gibt es Vergleichsdaten nur aus einem, zwei oder drei Jahren. Vielmehr haben die Autoren der Studie Daten aus zahlreichen Einzelmessungen gepoolt und den Rückgang der Biomasse für die Gesamtheit der Messungen diagnostiziert. Der Dortmunder Statistiker Walter Krämer vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung warf ihnen deshalb vor, unsauber zu arbeiten. Doch mehrere Biostatistiker sprangen ihnen bei, während Alexandra-Maria Klein, Professorin für Naturschutz und Landschaftsökologie an der Universität Freiburg, differenziert urteilte. Dem Science Media Center nannte sie als Schwachstellen der Studie, dass die meisten Standorte nicht wiederholt beprobt worden seien und dies durch statistische Modelle habe ausgeglichen werden müssen. »Trotzdem beweist die Studie eindeutig einen drastischen Rückgang der Fluginsekten in Naturschutzgebieten«, sagte sie.
»Die Studie beweist eindeutig einen drastischen Rückgang der Fluginsekten in Naturschutzgebieten«
Alexandra-Maria Klein
Die Krefelder Studie ist sicher nicht die letztgültige Studie zu diesem Thema – aber das behaupten ihre Autoren auch nicht. Zwar schreiben sie, die Ergebnisse seien repräsentativ für Schutzgebiete in Westdeutschland, doch zugleich weisen sie auf erheblichen zusätzlichen Forschungsbedarf und auf die Limitation ihrer Methoden hin. Erstaunlicherweise handelt es sich für Deutschland allerdings um die bisher umfassendste Messung und Auswertung. Weder die Agrar- und Umweltbehörden von Bund und Ländern noch die deutsche Wissenschaft noch die Agrarorganisationen haben ähnliche Monitoring-Programme initiiert. Das kann man angesichts der Bedeutung von Insekten als Bestäuber und als Nahrung für größere Tiere als sträfliches Versäumnis ansehen. Bis bessere Daten vorliegen, bildet die Krefelder Studie deshalb die beste verfügbare Entscheidungsgrundlage für Deutschland.
Ähnlich langfristige Messreihen zur Biomasse liegen hauptsächlich aus Großbritannien vor. Die bekannte Rothamsted-Studie konnte zwischen 1973 und 2002 nur in einem von vier Testgebieten signifikante Rückgänge verzeichnen, wobei ihre Urheber vermuten, dass der größte Teil des Insektenschwunds schon vor 1973 stattgefunden habe.
Gehen neben der Biomasse auch die Artenzahl und Häufigkeit der Insekten zurück?
Eigentlich sollte die Artenvielfalt auf Grund der für die meisten Insekten günstigen klimatischen Erwärmung zunehmen. Und in der Tat gibt es Arten, deren Bestände wachsen, wie zum Beispiel die des Braunen Waldvogels (Aphantopus hyperantus). Für einen erheblichen Teil der Arten sieht es jedoch anders aus. Laut Bundesamt für Naturschutz weisen von 7800 der mindestens 33 000 Insektenarten in Deutschland, deren Populationstrends genauer untersucht wurden, 42 Prozent im langfristigen Vergleich einen negativen Trend auf. Knapp 3000 Arten stehen in einer »Gefährdungskategorie« – 358 gelten als ausgestorben oder verschollen, 745 als extrem selten, 1029 als sehr selten und 1922 als selten.
Im Rahmen der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union werden derzeit nur die Bestände von weniger als 40 deutschen Insektenspezies systematisch untersucht, vom Vierzähnigen Mistkäfer bis zum Gestreiften Bergwald-Bohrkäfer. Und lediglich ein kleiner Teil der Arten, hauptsächlich Tagfalter, Wildbienen, Hummeln und Libellen, genießt Schutz.
»Unsere Studie zeigt, dass in den letzten 200 Jahren die Anzahl von Tagfalterarten dramatisch abgenommen hat«
Thomas Schmitt
Speziell für die Tagfalter in Wiesenlandschaften hat die Europäische Umweltagentur Erhebungen aus 19 Ländern aus dem Zeitraum 1990 bis 2011 ausgewertet. Bei den 17 untersuchten Arten kam es demnach zu einer Schrumpfung der Populationen um 50 Prozent. In diese Auswertung eingeflossen ist auch die Arbeit, die Freiwillige bei dem vom Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) koordinierten Tagfalter-Monitoring seit 2005 leisten. Auf bundesweit 500 Zählstrecken erheben die Freiwilligen, welche Arten sie in welcher Häufigkeit zu sehen bekommen. Die Koordinatoren am UFZ sind aber mit Trendaussagen zurückhaltend, wie sie auf der Website des Projekts schreiben: »Da Tagfalterpopulationen großen natürlichen Bestandsschwankungen unterliegen, sind seriöse Aussagen zu den Bestandstrends erst nach längeren Zeiträumen von mindestens zehn Jahren möglich und auch nur bei Arten, die vergleichsweise häufig vorkommen.« In Großbritannien ist das »UK Butterfly Monitoring Scheme« schon seit 1976 aktiv und hat ermittelt, dass von 33 Arten mit signifikantem Trend 61 Prozent im Rückgang begriffen sind.
Lokal ergibt sich in Deutschland ein ziemlich verheerendes Bild. Ein instruktives Beispiel sind drei Magerrasen-Areale in der Nähe von Regensburg, deren Artenvielfalt das zum Senckenberg-Museum gehörende Deutsche Entomologische Institut anhand von historischen Aufzeichnungen, Museumsbeständen und aktuellem Monitoring untersucht hat. Zwischen 1840 und 1880 kamen in dem 45 Hektar großen Areal im Durchschnitt 117 Tagfalterarten vor, im Jahr 2013 waren es nur noch 71. »Unsere Studie zeigt, dass in den letzten 200 Jahren die Anzahl von Tagfalterarten dramatisch abgenommen hat«, sagt Thomas Schmitt, der Leiter des Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg. Er ist entsetzt, dass der Rückgang auch in einem offiziellen Naturschutzgebiet so ausgeprägt ist.
Was sind die wichtigsten Ursachen des Insektenschwunds?
Die Autoren der Krefelder Studie betonen, dass sie für die 63 Standorte, an denen sie gemessen haben, zu keinen schlüssigen Ergebnissen kommen, was die Ursachen betrifft. Den Klimawandel schließen sie aus. Als Vermutung führen sie die Intensivierung der Landwirtschaft im Umkreis der untersuchten Schutzgebiete an, geben aber zu, dies nicht belegen zu können. In der Fachwelt werden die folgenden möglichen Ursachen diskutiert, von denen die meisten mit der industrialisierten Landwirtschaft zu tun haben.
Stickstoffbelastung: Durch intensive Düngung und Abgase ist das Stickstoffangebot in der Umwelt stark gewachsen. Das führt zu einem Rückgang der Pflanzenvielfalt auf Wiesen und in anderen Habitaten, da sich in überdüngten Habitaten nur wenige Pflanzenarten durchsetzen. Weniger Pflanzenvielfalt hat eine direkte Wirkung auf das Nahrungsangebot bestäubender und oftmals hoch spezialisierter Insekten.
Pestizide: Rund 48 000 Tonnen Pestizide werden in Deutschland pro Jahr ausgebracht,davon 1000 Tonnen Insektizide und »Akarizide« gegen Milben. Besonders umstritten sind die so genannten Neonikotinoide, bei denen Studien ergeben haben, dass sie die Populationen von Wildbienen, Hummeln und Honigbienen negativ beeinflussen können. Da es sich um die populärste Pestizidklasse handelt, tobt zwischen Herstellern und Agrarlobby einerseits und Umweltschützern auf der anderen Seite ein erbitterter Kampf.
Lebensraumveränderungen: Bereits seit mehr als 100 Jahren wird die Landwirtschaft in Deutschland und Europa zunehmend intensiviert. In jüngster Zeit ist der Bedarf hinzugekommen, für so genannte Biokraftstoffe Agrarflächen zu nutzen. Das führt dazu, dass nach der »Flurbereinigung« der 1960er und 1970er Jahre auch heute fortgesetzt Feldflächen vergrößert werden und Strukturelemente verschwinden.
Lebensraumzerschneidung: Durch Straßen und Siedlungen werden nicht nur Lebensräume zerstört, sondern auch Populationen von Insekten voneinander getrennt, was Thomas Schmitt im Februar 2018 in einer Veröffentlichung im Journal »Biological Conservation« als eine der Hauptursachen der Rückgänge bezeichnete. In Deutschland wird pro Tag mehr als ein Quadratkilometer Fläche bebaut, zwischen 1992 und 2015 verschwand eine Fläche von 93 mal 93 Kilometern unter Beton und Asphalt. Diese Ursachen wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig. Bisher gibt es keine stimmige und wirksame politische Strategie, die Ursachen zu bekämpfen.
Hängen Insektenschwund und der Rückgang von Vogelarten zusammen?
Ein erheblicher Teil der heimischen Vogel- und Fledermausarten ernährt sich von Insekten. Deshalb besteht die Gefahr, dass ein fortgesetzter Insektenschwund auch die Bestände größerer Tiere beeinträchtigt. Wie Christiane Habermalz von den »Flugbegleitern« dargelegt hat, ist der Negativtrend aber nicht eins zu eins von Insekten auf Vögel zu übertragen. Zwar weist die Vogelwelt erhebliche Rückgänge auf. So kommt das Bundesamt für Naturschutz zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Vogelbrutpaare allein zwischen 1998 und 2009 um 15 Prozent auf 85 Millionen gefallen sei. In der ganzen EU summiert sich der Rückgang auf 300 Millionen Brutpaare seit 1980, der European Bird Census Council rechnet mit einem Minus von 50 Prozent in diesem Zeitraum. Betroffen sind in Deutschland Insektenfresser wie das Braunkehlchen, der Feldschwirl oder der Wendehals mit Rückgängen um mehr als drei Viertel.
Doch der Vogelschwund hat auch andere Ursachen – beim Wendehals etwa das Verschwinden von Streuobstwiesen als Lebensraum. Und gegen den Trend nehmen andere Insektenfresser zu, etwa Dorngrasmücke, Gartenbaumläufer, Schilfrohrsänger und Pirol. Besonders gut sieht es bei den Insektenfressern im Wald aus, Buntspechte haben seit 1990 sogar um 47 Prozent zugenommen, was an einer nachhaltigeren Forstwirtschaft liegt. Dass aus 75 Prozent Biomasseschwund in der Krefelder Studie nicht 75 Prozent Vogelschwund werden müssen, hat noch einen weiteren, simplen Grund: Viele Vögel ernähren sich von leichten Insekten, nicht von den schwereren, die in der Auswertung der Entomologen besonders ins Gewicht fielen.
Was muss geschehen, um bessere Daten zu bekommen?
Ein genaueres Bild der Lage ist dringend nötig, um Ausmaß und Ursachen des Insektenschwunds zu ergründen. Die Krefelder Studie gibt einen alarmierenden Hinweis, sollte aber dringend durch umfangreiches Monitoring ergänzt werden. Das würde bedeuten, dass Daten zeitlich unbegrenzt, flächendeckend und mit einer ausreichend großen Zahl von Stichproben erhoben werden.
Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hat bereits angekündigt, endlich aktiv werden zu wollen. Andreas Krüß, Leiter der Abteilung »Ökologie und Schutz von Fauna und Flora«, sagte Ende 2017 im Deutschlandfunk, dass seine Behörde nun erstmals eine systematische und flächendeckende Messung der Insektenbestände aufbauen möchte: »Wir wollen möglichst repräsentativ für alle Lebensraumtypen oder Nutzungsbereiche Daten sammeln, damit wir tatsächlich über eine lange Zeit dokumentieren können, wie sich die Insektenvielfalt auf diesen Flächen entwickelt.« Durchführen sollen die Erhebungen zu einem guten Teil auch Laienwissenschaftler. Hier könnte ein Engpass des Projekts liegen: Um nicht nur die Biomasse, sondern auch die Entwicklung der Vielfalt überwachen zu können, braucht es für die rund 30 000 Insektenarten in Deutschland deutlich mehr Spezialisten als heute. Eine Alternative wäre es, Landwirte selbst in das Monitoring einzubeziehen und zu bezahlen. In Österreich wurde diese Art der Partizipation bereits erprobt.
Eine Alternative würde ein automatisiertes Messverfahren darstellen, wie es Wolfgang Wägele, Direktor des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig in Bonn, propagiert. Wägele will bundesweit Gerätschaften aufstellen, die wie Wetterstationen funktionieren und den Insektenfang automatisiert über DNA-Sequenzierung auswerten. Schon der heutige Wissensstand reicht jedoch, um das Problem sehr ernst zu nehmen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Denn bis neue Langzeitstudien Ergebnisse bringen, werden 10 bis 15 Jahre vergangen sein – das ist wertvolle Zeit, in der es gilt, Landwirtschaft und Landnutzung so umzugestalten, dass für Schmetterlinge, Hummeln, Schwebfliegen, Libellen und andere Insekten wieder mehr Platz und Nahrung vorhanden ist.
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