Lexikon der Biologie: Anlage-Umwelt-Diskussion
Anlage-Umwelt-Diskussion, Natur-Umwelt-Diskussion, Anlage-Umwelt-Problem, Anlage-Umwelt-Kontroverse, die Diskussion über Angeborenes–Erworbenes, Erbe–Umwelt, Natur–Kultur, nature–nurture. Eine der großen Menschheitsfragen, die sich in ihrer Grundthematik bis in die Anfänge der Geschichtsschreibung zurückführen läßt, ist, ob menschliches Verhalten, Merkmale und Fähigkeiten biologisch oder umweltbedingt sind. Die sog. Nativisten in der geistigen Tradition von Platon und I. Kant waren von der Dominanz des Erbes (Anlagen- oder Erbtheorie), die sog. Empiristen im Gefolge von Hobbes und Locke von der Vorherrschaft der Milieubedingungen überzeugt (Milieutheorie). Die wissenschaftliche Diskussion besteht sowohl zwischen den Disziplinen, etwa den Geisteswissenschaften (Psychologie, Soziologie) und den Naturwissenschaften (vor allem Biologie, Humangenetik), aber auch innerhalb der einzelnen Disziplinen. Nachdem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung durchsetzte, daß an der Entwicklung aller menschlichen Merkmale beide Faktoren beteiligt sind (Konvergenztheorie), ging die Diskussion zur Frage über, welches relative Gewicht hierbei Anlage und Umwelt besitzen. Während die Erbpsychologie von einer dominierenden Rolle des Erbguts ausging, war es vor allem der Behaviorismus, der die Lernanteile im menschlichen Verhalten im Vordergrund sah. Nachdem die Frage zum damaligen Zeitpunkt nicht geklärt werden konnte, schien die Anlage-Umwelt-Diskussion zumindest für die Psychologie vorerst erledigt, und eine dritte Fragestellung ging daraus hervor: Wie beeinflussen Anlage und Umwelt die individuelle Entwicklung? Dies ist zum einen das Aufgabengebiet einer entwicklungstheoretisch orientierten Genetik, die die Analyse der direkten und indirekten Genwirkungen auf allen Ebenen des Geschehens vornimmt, andererseits der Pädagogischen Psychologie, die die systematische Erforschung der Auswirkung gezielter Veränderung von Umweltvariablen vorantreibt, zur Feststellung der Wirksamkeit von entwicklungsbeeinflussenden Fördermaßnahmen. In den 70er Jahren flammte allerdings die Diskussion um den prozentualen Anteil der Erblichkeit an menschlichen Merkmalen und Fähigkeiten, besonders innerhalb der Psychologie, erneut auf. Hauptstreitpunkt waren sog. Erblichkeitsschätzungen der Intelligenz im Rahmen der Verhaltensgenetik. Die verhaltensgenetischen Studien (Adoptionsstudien, Zwillingsstudien) brachten sehr unterschiedliche Ergebnisse zum Vorschein, und vor allem die älteren Studien sind methodisch sehr umstritten. Sicher scheint jedoch, daß das unterschiedliche Abschneiden in sog. Intelligenztests zu einem hohen Anteil auf genetische Unterschiede und nur zu einem relativ geringen Anteil auf Umweltunterschiede in der Population zurückzuführen sind. Diese Aussagen beziehen sich jedoch nur auf die jeweils aktuell untersuchte Population als Ganzes und lassen keine individuellen Erblichkeitsaussagen und keine allgemeingültigen Entwicklungsvoraussagen zu. Aussagen wie die, daß 20 oder 40% umweltbedingte Varianz für Erziehung und Unterricht offen stehen bzw. die vielleicht 80 oder 60% erbbedingte Varianz jeder Beeinflussung von außen unzugänglich sind, sind von vornherein unsinnig. Jeder Entwicklungsverlauf ist das unikate Ergebnis einer Genotyp-Umwelt-Interaktion, die je nach gegebener Umwelt zu einem kleineren oder größeren Anteil das genetische Potential nutzbar machen kann. Anlage und Umwelt addieren sich nicht, sie multiplizieren sich in ihrer Wirkung. Der eigentliche Motor der Anlage-Umwelt-Diskussion ist auf gesellschaftlich-politischer Ebene zu suchen. Der irrtümliche Glaube an die Starrheit genetischer Anteile im menschlichen Verhalten führt bei Vertretern der "Chancengleichheit" zur Ablehnung der Erblichkeitsbefunde. Konservative Befürworter der "Chancengerechtigkeit", die etablierte soziostrukturelle Unterschiede oder bestehende Differenzierungen des Bildungssystems aufrechterhalten wollen, betonen dagegen eine starke genetische Komponente, vor allem bei der Intelligenzentwicklung. Beide Seiten sind an einer Fortführung der zweiten Frage, der Anlage-Umwelt-Diskussion interessiert, übersehen jedoch, daß dieser Forschungsansatz letztlich keine Argumente für eine der beiden Seiten erbringen kann. Der Mensch hat eine Natur- und eine Kulturseite, beide machen den Menschen aus. Zwischen der organischen und der soziokulturellen Evolution besteht kein Widerspruch, es sind nur zwei Wurzeln, zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. Es gibt überwiegend biologisch bedingte und überwiegend kulturell bedingte Geschehnisse. Allein biologisches Erbe hat die Entfaltung der Zivilisation und Kultur möglich gemacht. Die Natur des Menschen wirkt sich in Form verschiedener Antriebe sowie zusätzlicher funktioneller Strukturbeziehungen zwischen diesen aus. Je stärker biologisch bedingte Verhaltenstendenzen sind, je mehr Hunger, je stärker die Angst, je unbändiger die Wut, desto eher setzen sie sich bei den Verhaltensentscheidungen des einzelnen oder einer Gruppe durch. Die "Natur" setzt sich gegen "Kultur" durch. Andererseits ist es Menschen aber auch möglich, so lebenswichtigen Antrieben wie Hunger oder Sexualität zu widerstehen. Das bedeutet, daß der Mensch sein Verhalten von den unmittelbar wirkenden instinktiven oder erfahrungsbedingten Verhaltenstendenzen abkoppeln und "vernünftig" handeln kann. Die "Kultur" siegt über die "Natur". Was aber nicht heißt, daß die ererbten Antriebe und erfahrungsbedingten Verhaltenstendenzen keinen Einfluß auf das menschliche Verhalten hätten – sie sind da, jedoch innerhalb gewisser Grenzen kontrollierbar.
J.Be.
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