Lexikon der Biologie: Krebstiere
Krebstiere, Krebse, Krustentiere, Crustacea (Diantennata, Branchiata), Klasse der Gliederfüßer, die mit den Tracheata (Tracheentiere) zu den Mandibulata (Mandibeltiere) zusammengefaßt werden. Im Gegensatz zu den Tracheentieren und vor allem zu den Insekten werden sie fast nur durch Primitivmerkmale charakterisiert, vor allem durch den Besitz von 2 Paar Antennen und typischen Spaltfüßen (Extremitäten).
Gliederung: Der Körper ist gegliedert in Kopf (Cephalon), Brust (Thorax) und Hinterleib (Abdomen) (Ausnahme Remipedia, die das Abdomen vielleicht sekundär verloren haben). Der Kopf ist wie bei anderen Euarthropoda aus 5 (oder mit dem nur embryologisch nachweisbaren Praeantennensegment 6) Segmenten verschmolzen. Die Segmentzahlen von Thorax und Abdomen variieren in den verschiedenen Unterklassen und Ordnungen. Bei den Nicht-Malacostraca, früher als „Entomostraca" (Kleinkrebse) zusammengefaßt, ist das Abdomen extremitätenlos und endet mit dem als zweiästige Furca ausgebildeten Telson. Bei den Malacostraca („Höhere Krebse") besitzt der Hinterleib primär 6 Paar Schwimmbeine und ein meist reduziertes, extremitätenloses 7. Segment. Er wird hier als Pleon bezeichnet. Nach neueren Vorstellungen ist das Pleon durch Arbeitsteilung aus dem hinteren Teil eines ursprünglich längeren Thorax hervorgegangen, und das beinlose Abdomen ist bis auf 1 Segment, das 7. Pleonsegment, verlorengegangen. Bei vielen Krebstieren verschmelzen 1 oder mehrere Thorakalsegmente mit dem Kopf zu einem einheitlichen Tagma, dem Cephalothorax („Kopfbrust"). Bei den Zehnfußkrebsen (Decapoda) ist dies so weit gegangen, daß nur noch 2 Tagmata, Cephalothorax und Pleon, bleiben. Die Segmentzahl kann hoch, aber auch ganz reduziert sein; im Extremfall bleiben hinter dem Kopf nur 2 bis 4 Segmente (bei Ostracoda, Muschelkrebsen). Die Segmente besitzen ursprünglich, ähnlich wie die der Trilobiten, seitliche Pleurotergite oder Epimeren; ähnlich hat der Kopf eine umlaufende Kopfduplikatur. In reiner Form sind diese Verhältnisse heute nur noch bei den Cephalocarida erhalten. Bei der Mehrzahl der Krebstiere ist die Funktion der Pleurotergite, die Bildung einer Filterkammer, vom Carapax übernommen worden. Das ist der Kopfschild, der sich nach hinten ausdehnen und den ganzen Körper bedecken kann. Der Carapax der Onychura (Krallenschwänze; Muschelschaler und Wasserflöhe) ist dagegen nach neueren Vorstellungen eine Neubildung, eine Hautfalte, die vom 2. Maxillensegment ausgeht und im Extremfall den ganzen Körper einhüllt. Mit der Entwicklung des Carapax, der erst innerhalb der Krebstiere entstanden ist und die Beweglichkeit des Vorderkörpers stark einschränkte, hängt offenbar die Ausbildung gestielter Augen (s.u.) zusammen. Viele Krebstiere, die den Carapax wieder rückgebildet haben, besitzen sitzende, ungestielte Augen. Nur die Kiemenfußkrebse (Anostraca) haben ohne Carapax die Stielaugen behalten. Bei einer Reihe von Krebstieren wird der Carapax zu einer zweiklappigen Schale, die durch einen Schließmuskel verschlossen werden kann (Ostracoda [Muschelkrebse], Cirripedia [Rankenfüßer] und andere). Dieser Muskel ist aus dem ursprünglich in jedem Segment vorhandenen Pleurotergalmuskel des 2. Maxillensegments hervorgegangen.
Extremitäten ( vgl. Abb. 1/1 und vgl. Abb. 2/3 ): Mit Ausnahme der 1. Antenne werden alle Extremitäten als Spaltfüße angelegt. Ein Spaltfuß besteht aus dem Sympoditen oder Protopoditen, der 2 Anhänge, einen inneren Endopoditen (Telopoditen) und einen äußeren Exopoditen, trägt (Extremitäten [Abb.]). Der Protopodit kann in 2 oder 3 Abschnitte, Praecoxa, Coxa (Hüftglied) und Basis (Basipodit), untergliedert sein. Er kann außerdem weitere Anhänge tragen: Endite, nach innen, zur Mittellinie hin gerichtet, bilden häufig Kauladen oder ähnliche Strukturen; Exite oder Epipodite sitzen außen und dienen oft als Kiemen. Endo- und Exopodit können, je nach Funktion, unterschiedlich oder gleich gestaltet sein. Bei den Pereiopoden (Pereion; s.u.) mancher Malacostraca dient der Endopodit zum Laufen (Schreitfußast) und der Exopodit zum Schwimmen (Schwimmfußast). Der Spaltfuß ist so anpassungsfähig, daß er für fast alle Funktionen eingesetzt werden kann. Der Kopf trägt 5 Paar Gliedmaßen. Die 1. Antennen sind einästige (Ausnahme: Remipedia?) Fühler, können aber bei Malacostraca mehrere Geißeln ausbilden. Die 2. Antennen und alle folgenden Extremitäten werden als typische Spaltfüße angelegt. Bei erwachsenen Krebsen sind die 2. Antennen meist Fühler wie die 1. Antennen, nur bei den Cladocera (Wasserflöhe) und Muschelkrebsen behalten sie die larvale Funktion als Schwimmbeine. Die 3. Extremität ist die Mandibel, deren Endit einen mächtigen Kaufortsatz bildet; in vielen Gruppen, merkwürdigerweise gerade bei den ganz ursprünglichen Remipedia, Cephalocarida und Branchiopoda (Kiemenfußkrebse), verschwindet der Telopodit vollständig. Auf die Mandibel folgen 2 weitere, unterschiedlich gestaltete Mundwerkzeuge, die beiden Maxillen-Paare (Maxille). Häufig wird die Zahl der Mundwerkzeuge weiter erhöht, indem Beine des Thorax den Mandibeln und Maxillen angeschlossen und ähnlich werden. Sie werden als Maxillipeden bezeichnet; die restlichen, weiter der Lokomotion dienenden Thorakopoden nennt man dann Pereiopoden. Die Gliedmaßen des Rumpfes können Schreit-, Schwimm-, Filter-, Grab-, Beutefang- oder andere Funktionen ausüben, auch zu Kopulationsorganen (Gonopoden, z.B. das Petasma der Decapoda) werden.
Innere Organisation ( vgl. Abb. 1/2 und vgl. Abb. 2/2 ): Der Darm beginnt an der Unterseite des Kopfes unter der bei ursprünglichen Krebsen sehr großen Oberlippe (Labrum). Der ektodermale Vorderdarm bildet nur bei den Malacostraca einen Kaumagen. In den Mitteldarm münden vorn Blindsäcke, die bei vielen Krebstieren ein ausgedehntes System von verzweigten Mitteldarmdrüsen (Hepatopankreas) bilden. Der After liegt unter dem Telson. Exkretionsorgane (Farbtafel) sind primär 2 Paar umgewandelte Nephridien, die nach der Lage der Exkretionsporen an den Basen der 2. Antennen oder 2. Maxillen als Antennendrüsen bzw. Maxillendrüsen (Maxillardrüsen) bezeichnet werden. Ammoniak und andere Exkrete können außerdem durch die Kiemen abgegeben werden. Das Kreislaufsystem (Blutkreislauf [Abb.]) besteht ursprünglich aus einem langgestreckten Herzen, das dem Perikardialseptum (Perikardialmembran) aufliegt und zahlreiche, segmental angeordnete Ostien und Seitenarterien hat. Bei Kleinformen wird es bis auf ein kurzes Herz reduziert oder fehlt ganz. Sinnesorgane sind Tastborsten und andere Mechanorezeptoren und Chemorezeptoren. Mehrfach konvergent und an verschiedenen Körperstellen sind Statocysten (Gleichgewichtsorgane) entwickelt worden. Zum Grundbauplan gehören Komplexaugen und das Naupliusauge. Die Komplexaugen ähneln denen der Insekten und sind mit ihnen homolog. Sie sind häufig und bei allen Krebstieren mit einem Carapax gestielt (Augenstiel) und damit beweglich. Das Naupliusauge (eine der Synapomorphien der Krebstiere) besteht ursprünglich aus 4 (nur noch bei Notostraca = Rückenschaler, Kiefenfüße), meist jedoch aus 3 eng zusammenliegenden Pigmentbechern mit invertierten Sinneszellen und einer Cuticula-Linse. Bei einigen Copepoda (Ruderfußkrebse) und bei den Muschelkrebsen sind die 3 Einzelaugen wieder auseinandergerückt und zum Teil sehr kompliziert gebaut. Ursprünglich besitzen die Krebstiere außerdem noch 4 Frontalorgane, primär ebenfalls Photorezeptoren, zum Teil aber reduziert oder mit anderen Funktionen.
Fortpflanzung und Entwicklung: Krebstiere sind meist getrenntgeschlechtlich; in einigen Gruppen gibt es proterandrische Zwitter oder phänotypische Geschlechtsbestimmung. Parthenogenese kommt als zyklische (Heterogonie) oder geographische Parthenogenese vor allem bei Branchiopoda und Muschelkrebsen vor. Die Spermatozoen sind meist atypisch, zum Teil sehr merkwürdig gestaltet und geißellos. Die Eier werden nur selten frei abgelegt, meist am Körper mit Extremitäten, in der Carapaxfalte oder in Sekretbeuteln getragen. Ihnen entschlüpft primär der pelagische Nauplius, eine Kurzkeim-Larve ( Larven II ) mit nur 3 Gliedmaßenpaaren, den einästigen 1. Antennen und den zu Schwimm- und Filterorganen ausgebildeten, spaltfußartigen 2. Antennen und Mandibeln. Durch regelmäßige Häutungen entwickelt sich der Nauplius über mehrere Metanauplius-Stadien und weitere, bei den verschiedenen Unterklassen unterschiedlichen Larvenstadien zum fertigen Krebs.
Verbreitung und Ökologie: Krebstiere sind primär marin. Heute besiedeln sie alle aquatischen und einige terrestrische Lebensräume. Zu ihnen gehören die größten Arthropoden (Hummer, Königskrabbe, Riesenkrabbe [Seespinnen]), aber auch zahlreiche mikroskopisch kleine Formen. Sogar Sozialverbände haben sie entwickelt (z.B. Wüstenassel und Podoceridae). Krebstiere haben zwar ein hartes, oft mit Kalk u.a. Mineralien inkrustiertes Exoskelett, doch fehlt ihnen eine Wachsschicht auf der Cuticula; deshalb sind terrestrische Krebse (Landkrabben [Gecarcinidae], Landasseln [Oniscidea], Strandflöhe [Talitridae]) nur unvollkommen an das Landleben angepaßt. – Krebstiere sind von großer ökologischer Bedeutung. Manche treten in ungeheuren Massen auf und sind dann wichtige Nahrungstiere für Fische (Wasserflöhe, Copepoda u.a.) oder für Wale (Euphausiacea, Krill). Viele spielen als Primärkonsumenten und Zersetzer eine wichtige Rolle, und zahlreiche Decapoda und Fangschreckenkrebse (Stomatopoda) sind von wirtschaftlicher Bedeutung als Speisekrebse (u.a. Flußkrebse [Astacida]).
Evolution: Krebstiere sind eine sehr alte Gruppe. Muschelkrebse (Ostracoda), also keineswegs besonders primitive Krebse, sind seit dem Kambrium bekannt. Die Vorfahren der Krebstiere haben wahrscheinlich auf weichem Sediment gelebt, das sie bei der Fortbewegung aufgewirbelt und ausgefiltert haben. Die Nahrung wurde dann durch Endite an den Thorakalbeinen in eine ventrale Nahrungsrinne gebracht und nach vorn unter die große Oberlippe in den trichterförmigen Mundvorraum geschoben. So ernähren sich heute noch die Cephalocarida, Anostraca (Kiemenfußkrebse) undPhyllopoda (Blattfußkrebse). Die Pleurotergite und später der Carapax verhinderten dabei, daß aufgewirbelte Partikel weggedriftet wurden, und bildeten so eine Filterkammer. Die Spaltfüße dienten also ursprünglich sowohl der Fortbewegung als auch dem Nahrungserwerb. Bei höher entwickelten Krebsen sind diese Funktionen getrennt worden. Die Krebstiere enthalten zahlreiche Unterklassen und Ordnungen ( vgl. Tab. 1 ), deren Beziehungen untereinander noch völlig im Fluß sind ( vgl. Tab. 2 ). Anostraca und Phyllopoda werden manchmal als eigene Unterklassen geführt, manchmal jedoch in der Unterklasse Branchiopoda vereinigt. Mystacocarida, Copepoda, Branchiura (Fischläuse) und Cirripedia werden oft als „Maxillopoda" vereinigt. Nach neueren molekularbiologischen Untersuchungen bilden die Crustacea und die Hexapoda (Insekten) zusammen die Pancrustacea. Die Myriapoda (Tausendfüßer) gehören nicht in dieses Taxon; ihre Stellung, ob Schwestergruppe der Pancrustacea oder der Chelicerata, ist noch unklar. Ferner sind die Remipedia nach diesen Untersuchungen keine Krebstiere, sondern die Schwestergruppe der Hexapoda, d.h., die Krebstiere im alten Sinne sind paraphyletisch, und bei den Krebstieren sind die Muschelkrebse die Schwestergruppe aller anderen Crustaceen. Nach anderen molekulartaxonomischen Untersuchen sind innerhalb der Krebstiere die „Maxillopoda" kein monophyletisches Taxon; Pentastomida (Pentastomiden), Branchiura, Ostracoda bilden die eine, Copepoda und Cirripedia die andere Gruppe. Vielleicht sind sogar die Entomostraca, entgegen früheren Vorstellungen, ein Monophylum. Krebstiere IKrebstiere II , üß Gliederfüßer I , Verdauung III.
P.W.
Lit.: Abele, L.G. (Hrsg.): The Biology of Crustacea. Bd. 1. New York 1982. Gruner, H.-E.: Unterstamm Branchiata oder Diantennata. In: Urania Tierreich, Wirbellose Tiere. Leipzig 2000. Gruner, H.-E.: 1. Überklasse Diantennata (syn. Branchiata), 1. Klasse Crustacea, Krebse. In: Lehrbuch der Speziellen Zoologie. Begr. von A. Kaestner. Jena, Stuttgart 1993. Meglitsch, P.A., Schramm, F.R.: Invertebrate zoology. Oxford 1991. Lauterbach, K.E.: Zum Problem der Monophylie der Crustacea. Verh. naturwiss. Ver. Hamburg. NF 26, 293–320. 1983. Lauterbach, K.E.: Zum Grundplan der Crustacea. Verh. naturwiss. Ver. Hamburg. NF 28, 27–63. 1986.
Krebstiere
Abb. 1:
1a Schema eines Spaltbeins, b Blattbein eines Kiemenfußkrebses (Anostraca). 2 Anatomie eines Flußkrebses (Männchen); Aa Aorta anterior, Ab Abdominalarterie, 1. An 1. Antenne, 2. An 2. Antenne, Au Auge, Ed Enddarm, He Herz, Ho Hoden, Hs Herzspalten (Ostien), Ki Kiemen, Ma Magen (Kaumagen), Md Mitteldarmdrüse (Leber), Mm Mandibelmuskel, Mu Muskulatur des Pleons, Ro Rostrum, Sch Schuppe (Exopodit der 2. Antenne), Vd Vas deferens
Krebstiere
Abb. 2:
1Nauplius von Branchinecta occidentalis, 0,4 mm lang. 2 Bauplan eines Lophogastriden. 3 Extremitäten von Krebstieren (schematisch): a Turgorextremität eines Cephalocariden mit einheitlichem Sympodit; b Malakostraken-Bein mit dreigeteiltem Sympodit und als Kiemen fungierenden Epipoditen; c Mandibel eines Copepoden mit zweiästigem Taster; d Mandibel eines Wasserflohs ohne Taster.
Ba Basis (Basipodit), Co Coxa (Coxopodit), En Endopodit, Ep Epipodit, Et Endit (Kaulade), Ex Exopodit, Kl Kaulade, Pco Praecoxa, Sy Sympodit
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