Lexikon der Biologie: mechanische Sinne
mechanische Sinne, Sammelbezeichnung für eine Vielzahl von Sinnen bei Tieren und Mensch (i.w.S. auch bei Pflanzen; Diageotropismus, Erregungsleitung, Graviperzeption, Gravitropismus, Seismonastie, Statolithenhypothese, Tropismus), deren reizaufnehmende Strukturen (Mechanorezeptoren) durch mechanisch ausgelöste Verformungen (mechanische Reize) erregt werden. Die dabei wirksam werdenden Kräfte können entweder von außen – durch Berührung (Berührungsreize), Erschütterung oder Teilchenbewegungen in Luft und Wasser – oder durch den Organismus selbst, z.B. bei Bewegung (Gelenkrezeptoren) oder Muskelarbeit (Muskelspindeln), ausgelöst werden. Zu den mechanischen Sinnen zählen der Drucksinn, Tastsinn, Vibrationssinn und Strömungssinn – als Teile des Hautsinns – sowie Gehörsinn, Gleichgewichtssinn und Drehsinn. Die Unterteilung erfolgt nach der Art des auslösenden Reizes (Druck, Drehung, Vibration, Strömung), nach der Funktion des Sinnesorgans (Tastorgan, Gehörorgan, Gleichgewichtsorgan) oder nach der Lage der Rezeptoren (z.B. Haut). – Die Leistungen der mechanischen Sinne sind vielfältig: So nimmt z.B. der Mensch mit Hilfe des Tastsinns nicht nur die Stärke der erfolgten Berührung (Berührungsreize), sondern auch deren Ort wahr. Außerdem erhält er noch Informationen über Beschaffenheit, Oberflächenstruktur und Größe des berührten Gegenstands. Weiterhin kommt dem Tastsinn eine wichtige Funktion bei der Auslösung von Reflexbewegungen zu. Der Totstellreflex (Totstellverhalten) vieler Insekten wird durch starke mechanische Berührung ausgelöst; bei tarsalem Kontakt stellen Fliegen die Flugbewegung (Flug, Flugmechanik) ein, umgekehrt führt eine Aufhebung dieses Kontakts (Tarsalreflex) zum sofortigen Beginn der Flugbewegung. Auf den Rücken gefallene Tiere (z.B. Seesterne, Insekten) beginnen wegen fehlenden Berührungskontakts der Extremitäten sofort mit Umkehrbewegungen (Dorsalreflex, Lichtrückenreflex). Der Klammerreflex männlicher Frösche (Froschlurche) und Kröten wird durch Berührung der Bauchhaut ausgelöst, der Klammerreflex von Primaten-Babys durch Berührung der Handinnenflächen (Frühkindliche Reflexe, motorische Entwicklung). Eine besondere Form des Tastsinns stellt der Vibrationssinn dar, dessen adäquater Reiz mechanische Schwingungs-Energie (Schwingung) mit einem periodischen Zeitverlauf innerhalb eines bestimmten Frequenzbereichs ist. Besonders ausgeprägt ist der Vibrationssinn bei Spinnen und Insekten. Schaben können mit den Subgenualorganen noch Erschütterungen des Bodens ausmachen, wenn die Schwingungsamplituden nur 4·10 –9 mm betragen. Spinnen nehmen die Erschütterungen ihrer Netze mit den Sinnesspalten am distalen Ende des Metatarsus ihrer Laufbeine wahr. Die Fingerbeere des Menschen hingegen vermag „nur“ Vibrationen mit Amplituden von 10 –4 mm zu registrieren.
Der bei Fischen, im Wasser lebenden Amphibien und bei verschiedenen wasserlebenden Wirbellosen vorhandene Strömungssinn dient der Orientierung nach der Strömungsrichtung in Gewässern sowie der Lokalisation von Turbulenzen, die durch andere Tiere (Beute, Feinde) erzeugt werden. Diese Wasserbewegungen werden mit den Seitenlinienorganen wahrgenommen, deren Rezeptoren in der Regel am Kopf und entlang des Körpers in Reihen hintereinander angeordnet sind. Sie sind bei Fischen häufig am Grund von Rinnen oder innerhalb von mit Schleim gefüllten Kanälen gelegen. Der Krallenfrosch (Krallenfrösche) vermag mit Hilfe der Seitenlinienorgane ein Erschütterungszentrum im Wasser oder an der Wasseroberfläche bis auf eine Entfernung von 15 cm genau zu lokalisieren. Fische können mit diesem Organ den Staudruck, der beim Anschwimmen eines Hindernisses entsteht, quasi „ertasten“ (Ferntastsinn). In ihrer Funktion vergleichbar mit den Seitenlinienorganen sind die Haarfächerorgane der Hummer. Mit diesen insbesondere auf den Scheren angeordneten Organen erhalten die Tiere ebenfalls Informationen über Wasserbewegungen.
Über einen Gleichgewichtssinn oder statischen Sinn verfügen die meisten Tiere. Er dient der Orientierung im Raum und benötigt als auslösenden Reiz die auf alle Körper einwirkende und zum Erdmittelpunkt gerichtete Schwerkraft (Gravitationsbiologie). Die Wahrnehmung dieser Kraft erfolgt durch Gleichgewichtsorgane (Statolithenorgane, statische Organe, Schweresinnesorgane): Teile des Labyrinths bei den Wirbeltieren und die Statocysten bei den Wirbellosen (mit Ausnahme der Insekten). In diesen Organen sind in der Regel Teilchen mit hoher Dichte eingelagert, die auf den Härchen von Sinneszellen ruhen. Bei Bewegung des Körpers und damit des Organs sind die eingelagerten Teilchen bestrebt, den tiefsten Punkt des Gleichgewichtsorgans einzunehmen. Dadurch erfolgt eine Abbiegung der Sinneshärchen und dadurch die Reizung der Sinneszellen (Gleichgewichtsorgane). Die ersten echten Schweresinnesorgane treten bei den Medusen in Form von 8 Sinneskolben (Randkörper oder Rhopalium) auf, die am Schirmrand Ausstülpungen bilden. Als Statolithen („Schweresteine“) fungieren spezielle schwerere Kristalle, die auf Sinneszellen in der Basis des Randkörpers ruhen. Die paarig angelegten Statocysten (von einem Haarpolster ausgekleidete Hohlräume) der Weichtiere sind ektodermalen Ursprungs und befinden sich in der Nähe des Pedalganglions (Fußganglion), werden aber vom Cerebralganglion innerviert. Die Statolithen bzw. die kleineren Statoconien sind entweder mehr oder weniger frei beweglich (Muscheln und Schnecken) oder mit dem Sinnesepithel verwachsen (Kopffüßer). Zehnfußkrebse (Decapoda) besitzen Statocysten, die aus epidermalen Einstülpungen im Basalglied der 1. Antenne entstanden sind. Diese sind von einer Chitin-Cuticula, die ein Sinnespolster aufweist, ausgekleidet und bleiben oft durch eine Öffnung mit der Außenwelt in Verbindung. Der Statolith wird nicht vom Tier selbst produziert, sondern besteht aus aufgenommenen Fremdkörpern (Kieselsplitter). Diese werden durch Sekrete miteinander verbunden, wobei die Sinneshaare (Sensillen) mit einbezogen werden. Bei jeder Häutung werden die Statolithen zusammen mit dem Panzer abgeworfen. Nicht der durch das Statolithengewicht ausgelöste Druck, sondern die durch die Statolithenverlagerung bedingten Zugkräfte wirken erregungsauslösend. Einseitige Statolithenentfernung führt zunächst zu einer Ungleichgewichtslage (Schrägneigung) des Tieres, die innerhalb weniger Tage auf höherer neuronaler Ebene kompensiert wird. Dies ist für Krebse von großer Bedeutung, da die paarigen Statolithen nach jeder Häutung neu aufgenommen werden müssen und häufig unterschiedliche Gewichte besitzen. Als Schweresinnesorgane bei Insekten fungieren 2 Grundtypen: die Auftriebsstatoorgane der Wasser-Wanzen und die auf der Basis von Propriorezeptoren arbeitenden Statoorgane der terrestrischen Insekten. Larven der Wasser-Wanzen besitzen am Abdomen 2 paarige, ventral verlaufende, mit Deckborsten abgeschlossene Rinnen. An 4 Stellen, zwischen dem 3. und 6. Segment, sind die Deckborsten durch Sinneshaare ersetzt. Die Rinnen sind mit Atemluft gefüllt. Bei Änderung der horizontalen Schwimmlage verlagert sich die Luftfüllung dieser Rinnen entsprechend dem Wasserwaagenprinzip und übt in Abhängigkeit von der Aufwärts- oder Abwärtsbewegung Druck oder Zug auf die Sinneshaare aus. Bei den Imagines dieser Tiere sind die Rinnen verschwunden, die Sinneshaare, nun aber über Stigmen gelegen, hingegen erhaltengeblieben. Diese registrieren in Abhängigkeit von der Schwimmlage des Tieres die Luftverlagerungen im Tracheensystem.Die auf die Schwerkraft reagierenden Propriorezeptoren der Landinsekten sind in der Regel polsterartig angeordnete Haarsensillen an Gelenken, welche die unter der Einwirkung der Schwerkraft stattfindenden Verlagerungen von Körperteilen registrieren. Bei Bienen sind derartige Sinnespolster zwischen dem 1. und 2. Fühlergelenk, Kopf und 1. Fühlergelenk, Kopf und Thorax, Thorax und Abdomen sowie zwischen Thorax und Beinen lokalisiert. Bei Stechmücken haben die Johnstonschen Organe die Wahrnehmung der Schwerkraft mit übernommen. Bei vielen Käfern und Tagfaltern ist durch die Schwerpunktslage des Körpers tief zwischen den beiden Ansatzstellen der Flügel eine stabile Fluglage geschaffen. Bei Groß-Libellen wird eine Funktion des relativ massigen Kopfes als Gleichgewichtsorgan angenommen, dessen Bewegungen zum Rumpf von Sinnespolstern der Halsregion registriert werden. Die Gleichgewichtslage der Dipteren (Zweiflügler) wird durch die Tätigkeit der keulenförmigen Schwingkölbchen (Halteren, eine Umbildung der Flügel des 3. Thoraxsegments; Insektenflügel) gesteuert. Diese schlagen synchron mit gleicher Frequenz wie die Vorderflügel, aber in entgegengesetzter Phase. Durch die Höhe der Schlagfrequenz (200–600 Hz) entstehen Trägheitskräfte, die bestrebt sind, die Schwingungsebene der Halteren im Raum zu fixieren und damit die Fluglage des Insekts zu stabilisieren (Flugmechanik [Abb.]). Neben dem Gleichgewichtssinn besitzen viele Krebstiere, ebenso wie alle Wirbeltiere, einen Drehsinn (Rotationssinn). Bei Krebsen bewirken Drehungen des Körpers kompensatorische Augenstielbewegungen (Augenstiel) in die entgegengesetzte Richtung. Das Labyrinth („inneres Ohr“) der Wirbeltiere (Gehörorgane [Farbtafel]) liefert nicht nur Informationen über die Richtung der einwirkenden Schwerkraft, sondern spricht darüber hinaus auf Linear- und Winkelbeschleunigungen des Körpers an und dient dem Gehörsinn. Das gesamte Labyrinth ist mit Lymphe (Endolymphe) gefüllt und von Perilymphe umgeben. Die Gleichgewichtsorgane bestehen aus dem Utriculus, dem Sacculus und dem Bogengangsystem (Bogengänge, Vestibularreflexe). Sacculus und Utriculus sind für die Lageorientierung verantwortlich, jedoch scheint dem Utriculus die wichtigere Funktion zuzukommen, da sich in einigen Fällen (Fische, Frösche, Kaninchen) der Sacculus für die Raumorientierung als entbehrlich erwies. Für diesen wird eine Bedeutung für den Vibrationssinn diskutiert. Vom Statolithenapparat des Labyrinths geht eine Vielzahl von Reflexen aus, die sich auf Kopf-, Augen- (Augenmuskeln), Hals- und Körper-Muskulatur erstrecken (Kopfstellreflex, Augenreflexe, tonische Halsreflexe). Verantwortlich für den Drehsinn ist das Bogengangsystem. Der adäquate Reiz ist die Winkelbeschleunigung bei Drehung des Kopfes allein oder in Zusammenhang mit dem ganzen Körper. Bei derartigen Bewegungen wird das verwachsene Labyrinth mitgeführt, wohingegen die in den Bogengängen vorhandene Endolymphe infolge ihrer Trägheit zunächst im Ruhezustand verharrt. Daraus resultiert eine Ablenkung der in der Ampulle liegenden und mit der Labyrinthwand verwachsenen Cupula ( mechanische Sinne II ). Bei anhaltender Drehung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit paßt sich die Endolymphe verzögert dieser Bewegung an: die Cupula kehrt in die Ausgangslage zurück, und die Drehbewegung wird nicht mehr wahrgenommen. Bei Abbruch der Drehbewegung setzen die umgekehrten Prozesse ein: Das Labyrinth ist im Ruhezustand, die Endolymphe strömt aufgrund ihres Beharrungsvermögens weiter, so daß die Cupula nun in entgegengesetzter Richtung ausgelenkt wird.
Einen mechanischen Fernsinn stellt der Gehörsinn dar. Er ist bei den meisten Wirbeltieren sowie einigen Insektenfamilien zu finden (Gehörorgane) und dient ausschließlich der Schallwahrnehmung (auditorisches System, Cochlea, Cortisches Organ, Ohr, Schall). Chordotonalorgane, Gravitationsbiologie (Abb.), Haltungssinne, Kinästhesie, mechanosensitive Kanäle, Tympanalorgane. Mechanische Sinne IMechanische Sinne II .
H.W./C.S.
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