Lexikon der Biologie: neuartige Waldschäden
ESSAY
Wolfgang Harry Müller
neuartige Waldschäden
Farbtafel Neuartige Waldschäden, auch Walderkrankung oder (vor allem umgangssprachlich) "Waldsterben" genannt, ist die Bezeichnung für die seit etwa 1975 großflächig auftretenden und seither fast überall sichtbar gewordenen Schäden an vielen forstlich wichtigen Baumarten. Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, daß es sich hier um eine Vielzahl von Schadsymptomen handelt, die in ihrer Kombination neuartig sind, zudem in überregionalem Maße auftreten und eine Vielzahl von Baumarten betreffen. Symptome einer "neuartigen Erkrankung" zeigten sich Anfang der 1970er Jahre zuerst an der Tanne (Abies; "Tannensterben"), griffen aber bald auch auf Kiefer(Pinus) und Fichte(Picea) über. Zeitlich verzögert fielen auch bei Laubbäumen wie Buche(Fagus) und Eiche(Quercus) vergleichbare Schäden und Wuchsanomalien auf.
Seit Beginn der Waldschadensdiskussion Anfang der 1980er Jahre wird diskutiert, wie man den Gesundheitszustand des Waldes messen und überwachen kann. Ein Symptom, das möglicherweise auf den Gesundheitszustand von Bäumen hinweist, ist der Verlust und die Verfärbung von Nadeln und Blättern (Blatt). In der Waldschadenserhebung wird der Kronenzustand anhand der Kronenverlichtung und der Nadel-/Blattvergilbung den Schadstufen 0 bis 4 zugeordnet. Die Ergebnisse beider Merkmale werden in Kronenzustandsstufen zusammengefaßt ( ä vgl. Tab. 1 ). Die Kronenzustandsstufen 2–4 werden als deutlich geschädigt zusammengefaßt. Die Kronenzustandsstufe 1 wird als Warnstufe dargestellt.
Dieses Inventur-Verfahren ist wiederholt kritisch diskutiert worden, da die Dichte der Nadeln und Blätter aus den verschiedensten Gründen erheblich variieren kann. Neben Immissionen und waldbaulichen Maßnahmen (Waldbau) können natürliche Faktoren wie Bestandesalter, Trockenheit, Wind, Bodenzustand, Insektenfraß, Pilzbefall und vieles andere gleichermaßen zu Nadel-/Blattverlusten und Vergilbungen führen. Die Waldschadenserhebung erfaßt nur den Kronenzustand, nicht aber den Waldzustand. So zeigen Bäume trotz Nadel-/Blattverlusten oft hohe Zuwachsraten.
Anfang der 1980er Jahre wurde eine breit angelegte Forschungsinitiative zur Ursachenforschung der neuartigen Waldschäden begonnen. Zwischen 1982 und 1995 haben im Rahmen des Aktionsprogramms "Rettet den Wald" Bund, Länder und andere Forschungsträger die interdisziplinäre Waldökosystemforschung mit rund 480 Mio. DM (240 Mio. Euro) gefördert. Außerdem wurden von 1984 bis 1994 zur Stabilisierung geschädigter Waldbestände rund 590 Mio. DM (295 Mio. Euro) für waldbauliche Maßnahmen zu Verfügung gestellt. Seit 1984 führen die Bundesländer nach einheitlichen Verfahren Waldschadenserhebungen an den Hauptbaumarten (Fichte, Kiefer, Buche, Eiche) durch. In den einzelnen Bundesländern wird in regelmäßigen Abständen (z.B. alle 3 Jahre) auf der Grundlage eines 4×4 km-Stichprobennetzes der Kronenzustand ermittelt. So wurde 1991 in den alten und neuen Bundesländern an 7794 Stichprobenpunkten an rund 190.000 Bäumen der Kronenzustand erhoben. An jedem Punkt werden bei jeder Aufnahme dieselben 24 dauerhaft numerierten Bäume des herrschenden Bestands aufgenommen.
Das forstliche Umweltmonitoring in Deutschland ist in das europaweite Monitoringsystem (Biomonitoring, Monitoring) der Europäischen Union und der Wirtschaftskommission für Europa eingebunden. An dieser europaweiten Erhebung beteiligen sich derzeit 38 europäische Staaten. Dieses forstliche Umweltmonitoring stützt sich auf 2 Beobachtungsebenen – einerseits die jährliche, großräumige Waldschadenserhebung (Level I) und andererseits ein Netz von intensiv untersuchten Dauerbeobachtungsflächen (Level II). Level I bezeichnet ein repräsentatives Meßnetz in systematischem 16×16 km-Raster. Es umfaßt europaweit ca. 6000 Stichprobenpunkte im Wald (Deutschland: 446 Probenpunkte). Dort wird jährlich der Kronenzustand erhoben. Außerdem wurden auf den meisten Flächen Bodenzustandserhebungen (z.B. pH-Wert, C/N-Verhältnis usw.) und/oder chemische Nadel-/Blattanalysen durchgeführt. Level II dient der intensiven Beobachtung der wichtigsten Waldökosysteme in Europa. Auf über 860 Level-II-Flächen (Deutschland: 89 Level-II-Flächen) werden regelmäßig zahlreiche Parameter erfaßt, z.B. Kronenzustand, chemische Nadel-/Blattanalyse, Bodenzustand, Bodenlösungschemie, Baumzuwachs, Bodenvegetation, Luftschadstoffkonzentrationen und –einträge sowie Wetterdaten. Die gesammelten Daten ermöglichen Fallstudien über die Auswirkungen von Luftverschmutzungen und anderen Streßfaktoren (Streßfaktoren bei Pflanzen) auf die wichtigsten Baumarten und Standorte. In der zusammenfassenden Betrachtung aller Baumarten kann ein leichter Rückgang der Waldschäden zwischen 1994 und 1997 beobachtet werden (vgl. ä Neuartige Waldschäden ).
Die folgenden Zeitreihen stellen die Entwicklung des Waldzustands für Deutschland seit 1984 auf der Grundlage des 16×16 km-Stichprobennetzes (Level I) dar. Dabei ist zu beachten, daß die Angaben bis 1989 nur für die alten Bundesländer gelten und die getrennten Auswertungen der Altersgruppen <60 Jahre und >60 Jahre ( ä vgl. Abb. 1 , ä 2 , ä 3 , ä 4 und ä 5 ) erst ab 1987 dargestellt werden können.
Der Anteil deutlicher Schäden im Durchschnitt aller Baumarten ( ä vgl. Abb. 1 ) liegt auf Bundesebene derzeit (2001) bei 22%. Er hat sich in den letzten Jahren kaum verändert. Das Schadniveau liegt damit, nach maximal 30%, wieder nahe am Ausgangsniveau zu Beginn der Waldschadenserhebung. In die Warnstufe (leichte Kronenverlichtungen) fallen anfangs 33% und erreichen heute einen Wert von 42% der Waldfläche. Der Anteil ungeschädigter Waldflächen ging von 44% (1984) auf 36% (2001) zurück. Hinter den obengenannten Mittelwerten stehen hinsichtlich Ausmaß und Trend der Kronenverlichtung jedoch beträchtliche Unterschiede. Dies gilt sowohl für die verschiedenen Baumarten (s.u.), die verschiedenen Altersklassen (s.u.) als auch für die Regionen (vgl. ä Neuartige Waldschäden ).
Als häufigste Baumart ist die Fichte auf 34% der Waldflächen in Deutschland anzutreffen. Zwischen 1984 und 2001 schwanken die Schadstufenanteile deutlich: Schadstufe 0 zwischen 28% und 43%, Schadstufe 1 zwischen 31% und 43% und Schadstufe 2–4 zwischen 19% und 33%. Phasen der Schadzunahme wechseln sich mit Erholungsphasen ab.
Die Waldschadenserhebung zeigt, daß die älteren Bäume (>60 Jahre; dunkle Balken) von Kronenverlichtungen deutlich stärker betroffen sind als jüngere (<60 Jahre) ( ä vgl. Abb. 2 ).
Die zweithäufigste Baumart ist die Kiefer mit einem Anteil von 28% an der Waldfläche. Sie ist die von Kronenverlichtungen am wenigsten betroffene Hauptbaumart. Die langjährige Zeitreihe zeigt zunächst eine Abnahme der Schadstufe 2–4 von 23% auf 11% (1988), gefolgt von einem jähen Anstieg bis auf 33% (1991); anschließend sanken die Werte wieder auf 10% (1998). Seitdem nimmt der Anteil der Schadstufe 2–4 wieder auf 14% (2001) zu. Entsprechend schwanken die anderen Schadstufen in diesem Zeitraum: Schadstufe 0 zwischen 28% und 48% und Schadstufe 1 zwischen 38% und 48%.
Der Anteil der Schadstufe 2–4 ist bei älteren Bäumen größer als bei den jüngeren ( ä vgl. Abb. 3 ), aber nicht so ausgeprägt wie bei der Fichte.
Die Buche ist mit ca. 14% Anteil an der Waldfläche die häufigste Laubbaumart in Deutschland. Die langjährige Zeitreihe ergibt – anders als bei Fichte und Kiefer – seit 1984 bis Anfang der 1990er Jahre einen stetigen Anstieg der deutlichen Schäden (13–38%). In den letzten Jahren schwankt der Anteil der Schadstufe 2–4 zwischen 27% und 40%. Entsprechend ging der Anteil der Schadstufe 0 von 50% auf 25% zurück; die Schadstufe 1 schwankt zwischen 37 und 48%.
Die älteren Bäume (>60 Jahre) sind deutlich stärker betroffen als die jüngeren ( ä vgl. Abb. 4 ).
Die Eiche ist mit ca. 9% Anteil an der Waldfläche die vierthäufigste Baumart in Deutschland. Im Vergleich der Zeitreihen ergibt sich bei der Eiche die größte Dynamik. Zu Beginn der Waldschadenserhebung war sie mit 9% (1984) noch am geringsten betroffen. Doch dann nahmen die deutlichen Schäden rasch und stetig zu und erreichten 1996/97 mit 47% einen absoluten Höhepunkt. Im Gegensatz zur Buche gingen die deutlichen Schäden erheblich zurück, seit 1997 um 14 Prozentpunkte. Gleichwohl ist das Schadniveau immer noch dreimal so hoch wie 1984. Auch hier ging der Anteil der Schadstufe 0 deutlich zurück (von 54% auf 21% ); die Schadstufe 1 schwankt zwischen 37% und 47%.
Die Schäden bei älteren Bäumen (>60 Jahre) sind hier besonders hoch (vvgl. Abb. 5).
Seit 1986 werden die Waldschäden in den meisten europäischen Ländern nach dem oben beschriebenen Verfahren ermittelt. Die folgenden Aussagen beruhen auf einer Stichprobe im Jahr 2000, die rund 136.000 Bäume in 33 europäischen Ländern umfaßt. Einige nationale Erhebungen wurden auf dichteren Stichprobennetzen durchgeführt. Bei der europäischen Kronenzustandserhebung 2000 wurden etwa 90% der europäischen Waldfläche erfaßt. Nahezu ein Viertel aller erhobenen Bäume (22,8%) fallen in die Schadstufe 2–4 und 42,4% in die Warnstufe (Schadstufe 1). Nur 34,8% der Bäume sind ohne sichtbare Schäden ( ä vgl. Tab. 2 ). Aus den Ergebnissen geht hervor, daß die Prozentsätze der Schadstufe 2–4 seit 1990 insgesamt kontinuierlich zugenommen haben, wobei in den verschiedenen Klimaregionen unterschiedliche Trends zu beobachten sind. In den zurückliegenden Jahren wurden Verbesserungen in den Gebirgsregionen des Nordens (z.B. Schweden, Finnland), der gemäßigten borealen Zone (z.B. Lettland, Litauen, Weißrußland) und der subatlantischen Region (z.B. Dänemark, Norddeutschland, Polen) festgestellt. Eine Verschlechterung beobachtet man vor allem im Kontinentalbereich (z.B. Ukraine, Tschechische Republik, Bulgarien) und im Mediterranbereich (z.B. Spanien, Italien, Slowenien).
Schlüsselt man die Schadensentwicklung (Stufe 2–4) nach den Hauptbaumarten auf, so schwanken die Werte zwischen 1990 und 2000 erheblich, ohne daß ein klarer Trend zu erkennen ist ( ä vgl. Tab. 3 ). Die Schäden haben sich meist auf einem relativ hohen Niveau stabilisiert.
Ursachen und Symptome der "neuartigen Waldschäden"
Verschiedenste natürliche (z.B. Witterung, Fruktifikation vor allem bei der Buche, Schadorganismen) und anthropogene Faktoren (z.B. waldbauliche Maßnahmen, vom Menschen verursachte Stoffeinträge in den Wald) beeinflussen die Stabilität der Wald-Ökosysteme und die Vitalität der Waldbäume. Diese Faktoren beeinflussen sich auch wechselseitig. Bei einem ungünstigen Witterungsverlauf (Klima) erhöht sich z.B. die Empfindlichkeit eines Baums gegenüber Luftschadstoffen oder Insektenbefall (pflanzliche Abwehr). Eine Fülle von Erkenntnissen zu Ursachen und Symptomen der "neuartigen Waldschäden" ist das Ergebnis von fast 20 Jahren Waldschadensforschung. Einige der früheren Annahmen konnten widerlegt werden, andere wurden bestätigt, modifiziert oder ergänzt. Überprüft wurden folgende Annahmen:
Trockenschäden: Als Trockenjahre in jüngerer Zeit werden 1969, 1971–73, 1975–76, 1982, 1989 und 1991–92 angesehen. Doch auch in diesen Sommern waren die Niederschläge nicht überall knapp. Da das Muster der neuartigen Waldschäden nicht die Niederschlagsverteilung widerspiegelt, kommt dem Dürrestreß (Austrocknungsfähigkeit, Trockenresistenz) allenfalls regionale Bedeutung zu. Trockenheit beeinflußt viele Vorgänge im Lebensraum Wald und kann die Wirkung anderer Faktoren (z.B. Schädlingsbefall, Nährstoffaufnahme) synchronisieren, verstärken oder abschwächen.
Kälteschäden: Kältejahre, winterliche Temperaturstürze (z.B. Silvester/Neujahr 1978/79), Frühfröste, Spätfröste und Eisregen (Eis, Niederschlag) führen lokal zu erheblichen Schäden. Der Einfluß des Frostes nimmt mit der Höhenlage zu und kommt hinsichtlich der Frosthärte (Frostresistenz) bereits darin zum Ausdruck, daß in den Hochlagen der mitteleuropäischen Gebirge die empfindlichen Laubwälder in Nadelwälder übergehen, die den Kältestreß besser überstehen. Doch selbst in den milden Wintern traten in Berglagen vielfach Frostschäden auf. Experimente mit saurem Nebel haben gezeigt, daß die Frostempfindlichkeit dadurch erheblich steigt und akute Schäden entstehen.
Sturmschäden: Kräftige Stürme sind typisch für den europäischen Winter. Sie entstehen durch den Temperaturunterschied zwischen warmer tropischer Luft und kalter Polarluft, der im Winter besonders ausgeprägt ist. Extreme Sturmereignisse sind in Wirklichkeit nicht so selten, wie es vielleicht erscheinen mag. Wer die Aufzeichnungen der vergangenen Jahrzehnte aufmerksam studiert, wird feststellen, daß es nicht nur 1999 (Orkane "Anatol", "Lothar" und "Martin") und 1990 (Orkane "Vivian" und "Wiebke"), sondern auch in den Jahren 1946, 1954, 1958, 1962, 1967, 1972, 1976, 1981 und 1984 in West- und Mitteleuropa zu großen Sturmschäden (Windschäden) kam. Einzelne Ereignisse wie die Orkane "Wiebke" und "Lothar" lassen, auch wenn die dabei gemessenen Windgeschwindigkeiten zum Teil neue Rekordmarken setzten, keine Rückschlüsse auf die zukünftige Häufigkeit und Ausdehnung starker Orkane in Europa zu. Die Auswirkungen der Klimaänderung auf das Sturmgeschehen in Europa werden noch kontrovers diskutiert. Die Sturmschäden haben nur geringfügige Auswirkungen auf das Gesamtergebnis für Europa. Bei den schweren Stürmen 1999 fielen ca. 190 Mio. m³ Sturmholz (Holz) an; dies sind unter 1% des gesamten Holzvorrats in den europäischen Wäldern (ohne GUS-Staaten). Regional sind die Schäden bedeutender. So fielen z.B. in Frankreich dem Orkan "Lothar" ca. 6.5% des gesamten Holzvorrats zum Opfer (140 Mio. m³ Sturmholz bei 2150 Mio. m³ Holzvorrat).
Epidemien: Viren (Pflanzenviren), Mycoplasmen und Bakterien sind bekannte Krankheitserreger, die auch gesunde Bäume befallen. Einen Erreger, der eine Vielzahl von Bäumen befällt und das räumliche Muster der neuartigen Waldschäden erklären könnte, hat man bislang jedoch noch nicht gefunden. Pilzkrankheiten (Pilze) haben bei den Waldschadenserhebungen nur regional eine Bedeutung. Als Schwächeparasit gehört die "Nadelröte" bei der Fichte (Lophodermium piceae, Lophodermium macrosporum und Rhizophora kalkhoffii [Rhizophoraceae]) zu den klassischen Pilzkrankheiten. In Süddeutschland befiel die Nadelröte im Spätherbst der Jahre 1982–84 bereits geschwächte Bäume. In neuerer Zeit traten nennenswerte Schäden durch Kiefernbaumschwamm (Phellinus pini;Feuerschwämme), Weißtannen-Säulenrost (Pucciniastrum epilobii), Apiognomonia-Blattbräune bei der Buche und Eichen-Mehltau (Microsphaera alphitoides;Echte Mehltaupilze) auf.
Insektenfraß: Fraßschäden durch Insekten wurden im Jahr 2000 an rund 9% der Probenbäume festgestellt. Nach dem Orkan "Lothar" nahm der Befallsdruck rindenbrütender Borkenkäfer an der Fichte, vor allem der Buchdrucker(Ips typographus), weiter zu. Die Raupen der Nonne(Lymantria monacha), der Forleule(Panolis flammea) und der Blaue Kiefernprachtkäfer (Phaenops ssp.) setzten der Kiefer vor allem in Brandenburg und Sachsen zu. Schäden an der Buche, hervorgerufen durch holzbrütende Borkenkäfer (insbesondere Trypodendron domesticum, Hylecoetus dermestoides, Anisandrus dispar;Ambrosiakäfer) und der Buchenwollschildlaus (Cryptococcus fagi;Schmierläuse), gab es im Jahr 2000 vor allem in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.
Waldbauliche Fehler: Bekannt ist, daß die Nadelholz-Monokulturen – auch ohne Säurezufuhr durch die Luft – der Versauerung des Bodens (Bodenreaktion) Vorschub leisten, weil bei der Zersetzung der Nadeln organische Säuren entstehen. Niedrige pH-Werte im Boden beschleunigen die Verwitterung (Bodenentwicklung) der Minerale, wodurch vermehrt toxisch wirksame Aluminium-Ionen (Aluminium) freigesetzt werden können. Gegen den Verdacht, die Forstwirtschaft sei durch die Bevorzugung der Fichten selbst an der Misere der Wälder schuld, spricht nicht zuletzt die Tatsache, daß mittlerweile auch andere Baumarten in ähnlicher Weise betroffen sind. Die Wirtschaftsweise und der Anbau nicht standortgemäßer Baumarten mögen den Waldschäden mancherorts Vorschub geleistet haben – erklären können sie deren Umfang nicht.
Radioaktivität: Die Aussage einer Studie, die Zusammenhänge zwischen Waldschäden und Kernkraftwerken (Fallout, Radioaktivität) nachzuweisen schien, konnte nicht bestätigt werden.
Elektromagnetische Strahlung: Einzelne Forscher machen Richtfunkanlagen und Hochspannungsleitungen mit ihren elektromagnetischen Feldern für die Schäden mitverantwortlich. Die Wirkung elektromagnetischer Strahlung auf Organismen (Elektrosmog) ist insgesamt noch zu wenig erforscht, um eindeutige Nachweise vorlegen zu können.
Luftschadstoffe (Luftverschmutzung) belasten die Wälder in unterschiedlicher Weise. Ihre Einwirkung hat zu anfänglich kaum wahrnehmbaren, inzwischen meßbaren und langfristig wirksamen Veränderungen in den Waldökosystemen geführt. Trotz bisheriger Erfolge der Luftreinhaltung liegen die Belastungen vielfach immer noch deutlich über den ökologisch vertretbaren kritischen Schwellenwerten (sog. Critical Loads; ä vgl. Tab. 4 ).
Die Luftschadstoffe wirken auf das Ökosystem Wald
a) direkt, d.h., sie sind direkt pflanzentoxisch wirksam infolge hoher Schadstoffkonzentrationen in der Luft (schädigen die Blätter) und
b) indirekt, d.h., sie sind chronisch wirksam infolge langfristig hoher Depositionsraten (Deposition) und schädigen damit das gesamte Ökosystem.
Eine zentrale Rolle spielen dabei die anthropogenen Luftschadstoffe.
Schwefeldioxid (SO2): Die Wirkungen dieses Schadgases sind bisher am besten untersucht. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erkannte man, daß unweit der Erzhütten Schwefel gasförmig als SO2 (Schwefeldioxid) und in Form von schwefliger Säure (H2SO3) oder Schwefelsäure (H2SO4) über die Spaltöffnungen der Nadeln/Blätter aufgenommen wird und die pflanzlichen Organe schädigt (klassische Rauchgasschäden). Da in den letzten Jahrzehnten der größte Anteil der Schwefeldioxid-Emission in Mitteleuropa über hohe Schornsteine in die oberen Luftschichten abgegeben wird, konnte die Immissionsbelastung der näheren Umgebung reduziert werden. Das Ergebnis ist aber eine weiträumige Verteilung der Schadstoffe über ganz Europa. Die klassischen Rauchgasschäden fand man im größeren Ausmaß vor allem in den stark belasteten östlichen Regionen Europas, wie z. B. Bayerischer Wald, Erzgebirge, Karpaten. Höhere Schwefeldioxid-Konzentrationen führen u.a. zu Störungen der Regulationsfähigkeit der Spaltöffnungen und zu Veränderungen in der Aktivität bestimmter Enzymsysteme, z.B. zur Hemmung der Ribulose-1,5-diphosphat-Carboxylase oder Schädigung der Nitrit-Reductase (Nitrite). Als saurer Niederschlag und saurer Nebel begünstigt das in Wasser gelöste SO2 u.a. die Auswaschung von Nährelementen (Nährsalze) aus vorgeschädigten Nadeln und Blättern, das sog. Leaching, und damit die Symptome eines Nährstoffmangels (Mangelkrankheiten). Dieser Wirkungsmechanismus kommt jedoch für die meisten der geschädigten Waldgebiete in Mitteleuropa nicht in Frage, weil die kritische Konzentration von 50 mg SO2/m3 Luft nicht erreicht wird. Über den durch sauren Regen vermehrten Säureeintrag in den Boden wirkt das SO2 auch in geringeren Mengen langfristig schädigend auf die Wälder. Fast überall in Europa, so hat man inzwischen nachweisen können, ist es in den letzten 30 Jahren zu einer merklichen Versauerung der Waldböden gekommen, deren Ausmaß jeweils von den Standortbedingungen, dem Schadstoffeintrag aus der Luft und von der Form der Bewirtschaftung abhängt. Die Bodenversauerung beschleunigt die Freisetzung von Kationen im Boden, und durch die dann erfolgende Auswaschung von Calcium, Magnesium und Kalium kommt es zu einer Mangelernährung der Bäume. Außerdem werden die Zersetzungskette im Boden und die Mineralisation der Streu gehemmt. Es ist außerdem zu berücksichtigen, daß es durch die Absenkung des pH-Werts im Boden vermehrt zur Freisetzung von Aluminium-Ionen kommen kann, deren toxische Wirkung für viele Pflanzenwurzeln seit langem bekannt ist.
Stickstoffverbindungen: Sie gehören zu den Substanzen, die mit der industriellen Entwicklung in immer größerem Maße die Luft belasten. Bis 1980 sind die NOX-Emissionen stetig gestiegen. Die Freisetzung von Ammoniak ist regional ganz beträchtlich, vor allem in Gebieten mit intensiver Tierproduktion (Massentierhaltung) und hohem Anteil von Flüssigmist (Gülle). Die direkten Schäden sind eher regional von Bedeutung. Über die direkt schädigende Wirkung des Ammoniums ist wenig bekannt. Die Stickoxide (NOX) können mit Wasser starke Säuren bilden. In Form von Salpetersäure (HNO3) sind sie an der Auswaschung von Nährstoffen an vorgeschädigten Blättern beteiligt. Die Pflanze kann Stickstoffoxide auch direkt aufnehmen. In der Zelle werden die Stickstoffoxide über Nitrit (NO2–) zu Ammonium (NH4+) reduziert. Zu hohe Konzentrationen führen jedoch zur Hemmung der Photosynthese durch Anreicherung von Nitrit-Ionen. Dieser Effekt kann durch SO2 verstärkt werden, das die Nitrit-Reductase schädigt. Die Konzentration der Stickstoffoxide ist so gering, daß eine alleinige Verursachung der Waldschäden auszuschließen ist. Größere Bedeutung für die neuartigen Waldschäden haben die Stickoxide durch ihre Beteiligung an der Entstehung des Ozons. – Die Stickstoffverbindungen wirken überwiegend indirekt auf die Bäume ein. Stickstoff ist unter naturnahen Bedingungen im Vergleich zu anderen Nährstoffen knapp (Minimumfaktor; Minimumgesetz). Niederschlagsmessungen haben ergeben, daß die Gesamtstickstoffeinträge über die Luft bis zu 40–60 kg N/ha und Jahr (ca. 10–15% einer landwirtschaftlichen Voll-Düngung) ausmachen können. Vergleicht man diese Mengen mit dem Bedarf eines Fichtenwalds (ca. 10–20 kg N/ha und Jahr), so wird der Anteil der N-Überdüngung vor allem auf mittleren oder armen Böden deutlich. Das Pflanzenwachstum wird angeregt; dies erklärt auch die höheren Zuwachsraten der Bäume. Gleichzeitig wächst aber der Bedarf an anderen Nährstoffen (z.B. Magnesium), was auf ärmeren Waldstandorten zu Engpässen führen kann. Es kommt zu Nährstoffungleichgewichten. Erste Anzeichen dafür sind Nadelverfärbungen. Bei anhaltender Einwirkung verlichten die Baumkronen dadurch, daß einerseits neue Nadeljahrgänge deutlich kleiner bleiben als in den Vorjahren und andererseits ältere Nadeljahrgänge vorzeitig abfallen. – Auf lange Sicht kann durch Bodenversauerung (durch Salpeter- und Schwefelsäureeintrag) und Auswaschung der Nährelemente das Gleichgewicht der Nährstoffaufnahme gestört werden. Es erscheint auch möglich, daß der erhöhte Stickstoffeintrag das labile Gleichgewicht zwischen Waldbäumen und ihren Mykorrhiza-Partnern (Mykorrhiza) so stört, daß die normalerweise weitgehend von den Mykorrhiza-Pilzen übernommene Wasser- und Nährsalzversorgung beeinträchtigt und gleichzeitig deren nachgewiesene Schutzfunktion gegen pathogene Pilze und toxische Ionen (z.B. Schwermetalle) stark abgesenkt wird. Danach wären Waldschäden in erster Linie auf mikrobiologisch wenig tätigen Böden (Bodenorganismen) und verstärkt nach ausgesprochenen Trockenjahren zu erwarten, während feuchtere Jahre eine Verlangsamung des Erkrankungsgeschehens bewirken sollten. Diese Korrelation wird durch viele erfahrene Praktiker und zahlreiche Schadenserhebungen bestätigt.
Photooxidantien: Aus Stickoxiden, Sauerstoff und Kohlenwasserstoffen (anthropogen und biogen) können in der Atmosphäre unter Einstrahlung von UV-Licht (Ultraviolett) Ozon (O3) und Peroxyacetylnitrate (PAN) entstehen. Die Bildungsrate dieser Photooxidantien ist besonders hoch bei starker Sonneneinstrahlung und gleichzeitig hoher Konzentration der Vorläuferstoffe (z.B. NOX). Man findet in den Hochlagen der Mittelgebirge gewöhnlich höhere Ozonkonzentrationen als in den Industrie- und Ballungsgebieten, wo die NOX-Quellen liegen. Die Photooxidantien haben eine stark oxidierende Wirkung (Oxidation) und können über die Schädigung der Cuticula und Zell-Membranen sowie durch verstärkte Kationenauswaschung in Kombination mit saurem Nebel und Regen regional einen erheblichen Schadfaktor darstellen. Photooxidantien sind aber als alleinige Ursache für die neuartigen Waldschäden auszuschließen.
Schwermetalle werden ebenfalls in nennenswerten Mengen mit der Luft transportiert und in den Wäldern nachgewiesen. Bislang deutet wenig darauf hin, daß die Schadsymptome in den Wäldern durch Schwermetalle verursacht werden (Schwermetallresistenz). Ihre Anreicherung (Akkumulierung, Anreicherungsfaktor) im Boden (Schwermetallböden) und im Bestand stellt jedoch eine wachsende Gefahr für die Nahrungskette und die Qualität des Wassers (Wasserverschmutzung) dar.
Organische Schadstoffe, wie Chlorkohlenwasserstoffe), Phenole und Aldehyde, werden in erheblichem Umfang an die Umwelt abgegeben. Dem Problem der steigenden Zahl organischer Luftverunreinigungen steht ein relativ geringes konkretes Wissen über deren Ferntransport, Umwandlungsprodukte und umweltschädliche Eigenschaften gegenüber.
Hypothesen zur Entstehung der "Walderkrankung
In Ermangelung einer einzigen eindeutigen Darstellung über die Ursachen und Wirkungsbeziehungen spricht man von einer Komplexerkrankung und meint damit ein nur schwer zu entwirrendes Ursachengeflecht verschiedener Schadfaktoren. Die einzelnen Hypothesen gehen von unterschiedlichen Ansätzen aus.
Die Bodenversauerungs-Hypothese stellt den Säureeintrag aus der Atmosphäre in den Vordergrund ( ä vgl. Abb. 6 ). Diese anthropogene Versauerung führt zur Freisetzung und Auswaschung von Nährstoffen sowie zur Mobilisierung toxischer Aluminium-Ionen im Boden. Die Folgen sind Wurzelschäden und dadurch Nährstoff- und Wassermangel im Baum. – Die Hypothese über die komplexe Hochlagenerkrankung beschreibt das Zusammenwirken von Ozon, Säuredeposition und Nährstoffmangel in den höheren Lagen der Mittelgebirge ( ä vgl. Abb. 7 ). Sowohl die Einwirkung hoher Ozonkonzentrationen auf die Assimilationsorgane (Nadeln und Blätter) als auch eine ungenügende Nährstoffversorgung, insbesondere Magnesium, führen zum selben Schadbild. Die Stickstoff-Hypothese beruht auf der Synthese verschiedener Beobachtungen und theoretischer Überlegungen. Das Überangebot an Stickstoff (N) führt zu unausgewogenen Nährstoffbilanzen der Bäume und "Verdünnungseffekten" hinsichtlich jener Elemente, die im Boden und aus der Luft unzureichend angeboten werden (z.B. Phosphor, Magnesium, Kalium), sowie zur Veränderung der Mykorrhizierung der Bäume. Hinzu kommen die Verringerung der Frosthärte und die Veränderung in der Anfälligkeit der Bäume gegenüber fressenden und saugenden Insekten sowie gegenüber pilzlichen Blattparasiten ( ä vgl. Abb. 8 ). Verstärkte Nitrifikation und Nitratausspülung führen zu Basenverlusten und Bodenversauerung, wodurch die Nährstoffungleichgewichte weiter verstärkt werden. – Die Streßhypothese geht davon aus, daß eine Vielzahl von Schadenseinflüssen als Streßfaktoren zusammenwirken und irgendwann "das Faß zum Überlaufen bringen". Ist eine gewisse Dosis an Streß überschritten, zeigt die Pflanze eine ihr spezifische Streßreaktion (Pflanzenstreß). Diese Streßreaktion kann eine völlig andere sein als jene Reaktion, die die Pflanze zeigen würde, wenn sie einem Übermaß eines Schadstoffs ausgesetzt wäre. Der Baum ist in der Natur einer gewissen Anzahl von natürlichen Streßfaktoren ausgesetzt (u.a. Trockenheit, Frost, Nährstoffmangel, Schädlingen, Wind; Streßfaktoren bei Pflanzen), denen er im Normalfall gewachsen ist. Bis Anfang der 1990er Jahre standen die Bäume unter einem Dauerstreß durch Luftschadstoffe, der dazu geführt hat, daß die kritische Dosis durch die hinzutretenden natürlichen Streßfaktoren immer öfter überschritten wurde. – Infolge der Luftreinhaltepolitik gingen die Luftschadstoff-Emissionen zwischen 1985 und 1999 deutlich zurück; SO2-Emissionen: –90%, NOx-Emissionen: –55% und NH3-Emissionen: –25%. Dennoch ist keine signifikante Verbesserung des Waldzustands sichtbar. Es kann Jahrzehnte gedauert haben, bis die Ökosysteme auf Critical-Loads-Überschreitungen reagierten – es kann ebenso lange bis zur Erholung dauern. ä Neuartige Waldschäden
Lit.: Umweltbundesamt (ed.)(2000): Daten zur Umwelt – Der Zustand der Umwelt in Deutschland 2000. 7. Ausgabe. Berlin. Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – BMVEL (ed.)(2001): Bericht über den Zustand des Waldes. Ergebnisse des forstlichen Umweltmonitorings. Bonn. Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa/Europäische Kommission (ed.) (2001): Der Waldzustand in Europa. Genf und Brüssel. Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg (1999): Neuartige Waldschäden. Monitoring, Bodenzustand und Kompensationsmöglichkeiten. Freiburg i.Br.
Abb. 1:Alle Baumarten: Entwicklung der Schadstufenanteile (bis 1989 ohne neue Bundesländer; 2001: 13.478 Bäume)
Abb. 2: Fichte: Entwicklung der Schadstufen 2–4 nach Altersgruppen in Prozent (2001: bis 60 Jahre: 1495 Bäume, über 60 Jahre: 3122 Bäume)
Abb. 3:Kiefer: Entwicklung der Schadstufen 2–4 nach Altersgruppen in Prozent (2001: bis 60 Jahre: 1704 Bäume, über 60 Jahre: 2300 Bäume)
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