Lexikon der Biologie: Beuteltiere
Beuteltiere, Marsupialia, Metatheria (= Didelphia, = Aplacentalia), Ordnung (bzw. Unterklasse) vergleichsweise ursprünglicher Säugetiere, deren in embryonalem Entwicklungszustand geborene Junge im typischen Fall in einer durch Knochen (Beutelknochen) gestützten, bauchständigen Hauttasche (Bruttasche, Beutel, Marsupium;Brutbeutel) der Mutter heranreifen ("Marsupialia"). Für die Beuteltiere ist weiterhin kennzeichnend, daß ihr Gehirn (vor allem Neopallium und Kleinhirn) im Vergleich zu dem der Höheren Säugetiere (Eutheria) sowohl kleiner als auch weniger differenziert ist; hingegen ist das Riechhirn besonders groß ausgebildet. Das Gebiß ( vgl. Abb. ) enthält 18–56 Zähne. Es findet kein kompletter Zahnwechsel statt; die Milchzähne bleiben in Funktion (nur der 4. Prämolar wird gewechselt). Die Körpertemperatur der Beuteltiere ist etwas niedriger (34–36 °C) und weniger unabhängig von der Außentemperatur, als dies bei den Höheren Säugetieren der Fall ist. Ursprünglich sind 2 völlig getrennte Gebärmütter ("Didelphia") und Scheiden angelegt, aber bei allen heutigen Beuteltieren verwachsen diese meist mehr oder weniger im Verlauf der Ontogenese. After und Geschlechtsöffnung münden in eine Kloakentasche. – Die eigenartige Keimesentwicklung steht in Zusammenhang damit, daß die Beuteltiere im Gegensatz zu den Höheren Säugetieren (Placentalia) über keine leistungsfähige chorio-allantoide Placenta verfügen ("Aplacentalia") (Ausnahme: Nasenbeutler, Perameles;Chorioallantois); ihre Embryonen werden von Ausscheidungen der Uterusschleimhaut ernährt, die über Chorionzotten aufgenommen werden (Dottersackplacenta). Der Aufenthalt in der Gebärmutter beträgt für die Keimlinge der Beuteltiere je nach Art nur zwischen 8 und 42 Tage. Entsprechend sind die Jungen bei ihrer Geburt nur 0,5 bis 3 cm groß. Mit ihren stummelhaften Hinterextremitäten, noch weitgehend unentwickelten Sinnesorganen sowie dem vorübergehend noch in Funktion befindlichen primären Kiefergelenk (!) kann man sie als frühgeborene Embryonen ansehen, deren Austragezeit durch die Geburt unterbrochen und in der Bruttasche fortgesetzt wird. Während ihres Aufenthalts im Beutel umschließt der Mund der Jungen ständig die mütterliche Zitze (Haltevorrichtung); ein besonderer Muskel (Musculus compressor mammae) spritzt ihnen die Milch ein. – Der Beutel (Marsupium) der Beuteltiere ist vielgestaltig: Es kann jede der oft zahlreichen (2–27) Zitzen von einem eigenen Hautwall umgeben sein, eine ringförmige Hautfalte als nach unten offener Beutel die bauchständigen Zitzen insgesamt umgeben, oder aber ein mit einem Schließmuskel ausgestatteter kompletter Beutel vorhanden sein; auch bilden einige gar keinen Beutel bzw. nur andeutungsweise einen solchen aus, andere wiederum entwickeln ihn nur während der Fortpflanzungszeit. – Die Beuteltiere umfassen derzeit 9 Familien ( vgl. Tab. ), nach anderer Auffassung 16, mit 72 Gattungen und etwa 260 Arten. Die Mehrzahl von ihnen lebt heute in der australischen Region; lediglich Vertreter zweier recht ursprünglicher Familien, der Beutelratten und der Opossummäuse, gibt es heute noch in der Neuen Welt, vor allem in Südamerika (vgl. Abb.). In anderen Gebieten der Erde, so sie dorthin gelangt waren, konnten sich die Beuteltiere gegen die Konkurrenz der fortschrittlicheren Placentalen Säugetiere (Eutheria) nicht erfolgreich behaupten. Keinerlei fossile Nachweise von Beuteltieren kennt man aus Asien und Afrika. – Was die stammesgeschichtliche Entstehung der Marsupialia betrifft, so geht man davon aus, daß sie während der Unterkreide gemeinsam mit den Höheren Säugetieren aus Pantotheria entstanden sind. Manche Autoren nehmen an, daß dies in Südamerika geschah (viele Fossilfunde, jedoch erst ab der jüngsten Oberkreide); andere sehen Nordamerika als das Entstehungszentrum an, nachdem man dort zahlreiche, auf mehr als 100 Millionen Jahre datierte Fossilien gefunden hat (ältester Fund: Beutelratte Holoclemsia aus der Unterkreide). Tiergeographisch interessant ist nun das Zustandekommen des gegenwärtigen Verbreitungsmusters der Marsupialier (Südamerika, Australien). Von Nordamerika wanderten im frühen Eozän, wie Fossilfunde zeigen, einige Beutler über Grönland nach Westeuropa ein, starben dort aber Ende des Miozäns wieder aus. Bessere Entfaltungsmöglichkeiten boten sich den Beuteltieren offensichtlich in Südamerika, wo es ihnen gelang, während des Tertiärs eine erstaunliche Formenvielfalt hervorzubringen (adaptive Radiation). Es entstanden sowohl insektenfressende als auch rein pflanzenfressende Beuteltiere sowie die südamerikanischen Raubbeutler(Borhyaenidae), mit der hyänenähnlichen Borhyaena, dem hundeähnlichen Lycopsis und dem Säbelzahnbeutler (Thylacosmilus), der nach Schädel- und Gebißvergleichen eine erstaunliche Parallelentwicklung (Konvergenz) zu den heute ebenfalls ausgestorbenen placentalen Säbelzahnkatzen (z. B. Machairodus;Machairodontidae) darstellt. Die Entfaltung der südamerikanischen Raubbeutler (Borhyaenidae) während des Tertiärs – nach G.G. Simpson parallel zur Entwicklung der australischen Raubbeutler (Dasyuridae) – war möglich, da dort zu jener Zeit noch keine (überlegenen) placentalen Raubtiere (Ordnung Carnivora) lebten. Südamerika war, nach seiner Trennung von Afrika und von Antarktika (Gondwanaland), während des ganzen Tertiärs (mit einer kurzen Unterbrechung im Eozän) ein eigener isolierter Kontinent. Erst nach dem Wiederentstehen einer Landbrücke zu Ende des Tertiärs konnten die Vorfahren der heutigen placentalen Raubtiere (Carnivora) aus Nordamerika einwandern, was zum Aussterben der Borhyaeniden Südamerikas führte. Behaupten konnten sich lediglich einige Vertreter der Opossummäuse und der Beutelratten, von denen es während der Eiszeit einer Art sogar gelang, Nordamerika (wieder) zu besiedeln (Opossum). – Wie aber kamen die Beuteltiere nach Australien? Bereits im frühen Tertiär (d. h. vor der Entstehung der einzelnen Kontinente Südamerika, Antarktika, Australien; Kontinentaldrifttheorie) müssen, in ihrer Organisationsstufe den Beutelratten nahestehende, Marsupialier von Südamerika über Antarktika nach Australien gelangt sein. Tatsächlich fand man 1982 in der Antarktis ein fossiles Beuteltier. Seit der Loslösung von Antarktika blieb Australien als eigener Erdteil isoliert. Ohne die Konkurrenz durch Placentale Säugetiere brachten die Beuteltiere in der australischen Region während einer Zeit von 40 Millionen Jahren eine Vielzahl an Lebensformtypen hervor und besetzten damit nahezu jede ökologische Planstelle, die andernorts von ähnlich ausgestatteten Placentalen Säugern eingenommen wird (Stellenäquivalenz). Konvergent zur Evolution der Placentalen Säugetiere entstanden auf diese Weise wiesel-, marder- und wolfsähnliche Raubbeutler, eichhörnchen- und flughörnchenartige Kletterbeutler, maulwurfartige Beutelmulle und viele andere. Zwar brachten die Beuteltiere keine Huftiere hervor, doch nehmen die Känguruhs nahezu die gleiche ökologische Stelle ein. Während der Eiszeit entwickelten sich unter den australischen Beuteltieren sogar Riesenformen ( vgl. Abb. ), die – als das Klima noch feuchter war – das Gebiet der heutigen Grassteppen und Halbwüsten bewohnten. Das Aussterben der bis zu 3 m großen Riesenkänguruhs (Sthenurus, Procoptodon), des Riesenkoala (Phascolarctos ingens), des Riesenwombats (Phascolonus gigas), des Beutellöwen (Thylacoleo carnifex) und der nashorngroßen Nototheria (Nototherium) und Diprotodonta geschah wahrscheinlich durch eine Klimaänderung, die einen Vegetationswechsel und die Austrocknung weiter Teile Australiens zur Folge hatte. Der gefährdende Einfluß des Menschen auf die australische Beuteltier-Fauna begann, als die Australier den Dingo und später die weißen Siedler den Fuchs (Füchse) und das Kaninchen einführten, Wälder abholzten und weite Landstriche zur Schafzucht nutzten. Durch die Überlegenheit der Placentalen Säugetiere und durch die Wegnahme von Lebensraum wurden weitere Beuteltiere ausgerottet bzw. vom australischen Festland auf Inseln verdrängt (Beutelwolf, Beutelteufel) – ein Prozeß, den man heute durch staatliche Schutzmaßnahmen aufzuhalten versucht. amphinotische Verbreitung, australische Region, Banks (J.), Hoden, Homoiothermie, Nestflüchter, Polarregion; adaptive Radiation , Säugetiere.
H.Kör.
Lit.:Hunsaker, D.: The Biology of Marsupials. New York 1977. Stonehouse, B. & Gilmore, D. (eds.): The Biology of Marsupials. London 1977. Strahan, R. (ed.): Complete Book of Australian Mammals. London 1984. Ride, W.D.L.: A Guide to the Native Mammals of Australia. London 1970.
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