Lexikon der Biochemie: molekulare Evolution
molekulare Evolution, zusammen mit der chemischen Evolution die Prozesse, durch die erstmals Biomoleküle entstanden sind, aus denen dann selbstreproduzierende Organismen hervorgegangen sind. Die chemische Evolution, durch die Biomoleküle aus anorganischem Material entstanden ist, wird im Stichwort Abiogenese beschrieben. Sie führt zur Entstehung erster Makromoleküle, von Proteinen und Polynucleotiden.
Es ist unbekannt, wie Polynucleotide selbstreplizierend wurden, aber Kuhn hat angenommen, dass die Änderungen zwischen ein- und zweisträngigen Formen zu Anfang durch periodische Änderungen in der Umwelt angetrieben worden sein müssen. Die Selektion könnte in dem Moment eingesetzt haben, als Systeme zur mäßig genauen Selbstreplikation fähig waren, und die Merkmale, nach denen zu Anfang selektiert wurde, waren vermutlich die Effizienz und die Genauigkeit der Replikation und die Stabilität der Nucleinsäuremoleküle zwischen den Replikationszyklen. Vor der Evolution der nucleinsäuregesteuerten Proteinsynthese (genetischer Code) muss das gesamte System bereits von einer Membran umschlossen gewesen sein.
Nachdem die Stufe der nucleinsäuregesteuerten Proteinsynthese erreicht worden war, müssen sich die Organismen schnell vermehrt haben (Abb. 1). Die Selektion würde zunächst die Entwicklung von Enzymen begünstigen, die Nucleinsäuren und Proteine aus abiotisch gebildeten Vorstufen synthetisieren, später diejenigen Enzyme, die Bausteine von Proteinen und Nucleinsäuren aus verfügbaren Vorstufen synthetisieren. Die universellen Soffwechselwege wären so Schritt für Schritt aus dem Rückwärtsgehen von komplexen zu einfachen Formen entstanden, als die wachsenden Zellpopulationen ihre frühen abiotischen Ressourcen ausgeschöpft hatten. Diese biochemische Evolution führte schließlich zur Evolution der Photosynthese durch Cyanobakterien, die eine oxidierende Atmosphäre erzeugt und der abiotischen Bildung organischer Verbindungen ein Ende gesetzt hat. Die ältesten fossilen Bakterien und Cyanobakterien sind ungefähr 3 Milliarden Jahre alt und die Atmosphäre wurde vor etwa 2 Milliarden Jahren oxidierend.
Mechanismen der m. E. Ein Organismus, der genau soviel DNA besitzt, wie er für die Kodierung der minimalen, lebensnotwendigen Enzymausstattung benötigt, wäre sehr unflexibel. Deshalb sind Mechanismen, die das DNA-Komplement je Zelle erhöhen, wichtig für die Variation, Anpassungsfähigkeit und die weitere Evolution. Der wichtigste Mechanismus ist die Genduplikation, die durch ungleiches crossing over oder durch eine vollständige Genverdopplung (engl. single locus duplication) erfolgen kann. Zu Anfang sind die beiden duplizierten Gene identisch. Da jedoch Mutationen in einem Gen nicht tödlich sind, wenn das andere funktioniert, kann dieses Punktmutationen, Deletionen oder Additionen (Mutation) akkumulieren. Eine Selektion tritt ein, wenn das neue Protein Funktionen im Organismus übernimmt, die ihn besser an seine Umwelt anpassen. Auf diese Weise sind eine Reihe von Proteinfamilien entstanden: die Cytochrome c, die Myoglobine, die α-, β-, γ- und δ-Hämoglobinketten (Abb. 2), die Fibrinpeptide, einige Proteinhormone, die Pankreas-Serinproteasen und vermutlich viele andere.
Unterschiedliche Proteinfamilien haben durch Punktmutationen entstandene Aminosäuresubstitutionen in unterschiedlichem Maß angehäuft. Es ist möglich, eine durchschnittliche Mutationsrate zu berechnen, deren Vergleich mit der Anzahl der Substitutionen in der Primärsequenz von Enzymen zweier Spezies näherungsweise die Zeit ergibt, die verstrichen ist, seit sich ihre phylogenetischen Linien getrennt haben. In der Tabelle sind einige Beispiele angeführt, einschließlich der sich extrem schnell ändernden Fibrinpeptide (90 Punktmutationen je 100 Aminosäuren und 100 Millionen Jahren) und der stark konservativen Histone (2 Mutationen in 1,5 Milliarden Jahren). Die statistische Mutationshäufigkeit ist dabei in allen Fällen gleich, jedoch führen bei bestimmten Proteinen fast alle Änderungen zum Funktionsverlust und sind damit tödlich, während andere eine größere funktionelle Toleranz aufweisen.
Sowohl auf molekularer als auch auf der Organismenebene kann man konvergente und divergente Evolution beobachten. Eine konvergente Evolution tritt ein, wenn ähnliche Umwelteinflüsse die Entwicklung ähnlicher Merkmale bei nicht verwandten Organismen begünstigen, wie z.B. die Stromlinienform bei Fischen und Meeressäugetieren oder Enzyme mit ganz unterschiedlichen Sequenzen, die die gleiche Reaktion katalysieren. Bei einer divergenten Evolution entstehen aus einer Organismen- oder Proteinart zwei oder mehr Arten. Für die molekulare Divergenz sind die oben diskutierten Mechanismen (Genduplikation, Akkumulation von Mutationen) verantwortlich.
molekulare Evolution. Abb. 2. Evolution der menschlichen Hämoglobin-(Hb)-Ketten (α, β, γ, δ). Die Abtrennung der α-Kette des Pferde-Hb vom Human-Hb ist mit gestrichelter Linie angegeben.
molekulare Evolution. Abb. 1. Phasen der molekularen Evolution.
molekulare Evolution. Tab. Mutationsraten verschiedener Proteinfamilien (gekürzt aus Dayhoff: Atlas of Protein Sequence, 1972). N = akzeptierte Punktmutation je 100 Aminosäurereste in 100 Millionen Jahren.
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Fibrinpeptide | 90 | |
Wachstumshormon | 37 | |
Pankreas-RNase | 33 | |
Immunglobuline | 32 | |
Lactalbumin | 25 | |
Hämoglobinketten | 14 | |
Myoglobin | 13 | |
Pankreas-Trypsininhibitor | 11 | |
tierisches Lysozym | 10 | |
Trypsinogen | 4 | |
Cytochrom c | 3 | |
Histon IV | 0,06 |
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