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Kompaktlexikon der Biologie: Die Forschung an embryonalen Stammzellen

ESSAY

Dr. Theres Lüthi, Redaktion Forschung und Technik, Neue Zürcher Zeitung

Die Forschung an embryonalen Stammzellen

Kaum ein anderes Forschungsthema wird in der Öffentlichkeit so kontrovers diskutiert wie die Embryonenforschung. Warum werden menschliche Embryonen eigentlich als Forschungsobjekte eingesetzt? Unter anderem weil man aus ihnen so genannte embryonale Stammzellen gewinnen kann. Diese Zellen sind pluripotent oder einfacher gesagt: Sie sind „Alleskönner“. Sie sind in ihrer Entwicklung noch nicht festgelegt, aus ihnen können also Nervenzellen, Knochenzellen, Blutzellen, grundsätzlich jeder der über 200 Zelltypen des menschlichen Körpers, hervorgehen. Embryonale Stammzellen können sich außerdem in Kultur uneingeschränkt vermehren. Auf Grund dieser Eigenschaften möchten Wissenschafter die Zellen dazu verwenden, um Ersatzgewebe für schwer kranke Menschen heranzuzüchten.

Großes klinisches Potenzial

Die Forschung an Stammzellen steckt heute allerdings noch in den Kinderschuhen. Anfang der 1980er-Jahre gelang es Wissenschaftlern erstmals, embryonale Stammzellen aus Mäuseembryonen zu gewinnen und in der Kulturschale zu züchten. In den folgenden Jahren wurden die Zellen auch bei anderen Tierarten entdeckt. Dass diese Zellen auch beim Menschen gefunden würden, war daher nur eine Frage der Zeit. Die Meldung von zwei amerikanischen Forscherteams im Jahre 1998 über die Entdeckung von pluripotenten menschlichen Stammzellen löste eine regelrechte Forschungslawine aus. Entwicklungsbiologen sahen sich plötzlich in die Lage versetzt, grundlegende Fragen zur Gewebedifferenzierung und Organbildung zu klären. Weit mehr Beachtung fand die Entdeckung jedoch wegen des klinischen Potenzials der Zellen. Mit der Forschung an Stammzellen verbindet sich die Hoffnung, Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Schlaganfall, Diabetes, schwere Verbrennungen oder gar Krebs zu behandeln. Bei der Parkinson-Krankheit etwa ginge es darum, die Stammzellen zu Dopamin produzierenden Nervenzellen ausdifferenzieren zu lassen. Diese Zellen gehen bei Menschen mit Parkinson aus bislang ungeklärten Gründen zugrunde.

Doch so vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von Stammzellen für die Medizin auch sind, so ethisch umstritten ist die Forschung an ihnen. Denn embryonale Stammzellen werden heute vor allem aus zwei Quellen gewonnen: Zum einen aus „überzähligen“ Embryonen, die im Rahmen künstlicher Befruchtungen anfallen und nicht mehr benötigt werden, und zum anderen aus abgetriebenen Embryonen und Föten. Der Meinungsbildungsprozess zur Forschung an embryonalen Stammzellen steht heute noch ganz am Anfang – eine Tatsache, die sich in der unterschiedlichen Gesetzgebung der verschiedenen Länder widerspiegelt.

Viel versprechende Ergebnisse aus Tierversuchen

Bis zu einer klinischen Anwendung von Stammzellen dürfte es noch viele Jahre dauern. Denn heute ist erst in Ansätzen bekannt, weshalb aus einer Stammzelle eine Nervenzelle hervorgeht und aus einer anderen eine Blutzelle. Bevor man Stammzellen medizinisch nutzen können wird, müssen Wissenschafter also herausfinden, welche Faktoren genau dafür verantwortlich sind, dass eine Stammzelle einen bestimmten Entwicklungspfad einschlägt.

Ebensowenig geklärt ist, ob sich embryonale Stammzellen bzw. die aus ihnen hervorgehenden Gewebe im Körper normal verhalten. Erste Resultate aus Tierversuchen stimmen hier optimistisch. So gelang es Forschern beispielsweise, in der Kulturschale aus embryonalen Stammzellen der Maus Herzmuskelzellen, Blut- und neuronale Vorläuferzellen zu bilden. Diese verpflanzten sie anschließend in Mäuse. Dort entwickelten sich die Zellen dem jeweiligen Organ entsprechend weiter und übten ihre richtigen Funktionen aus. Inzwischen haben Wissenschafter – ebenfalls im Tierversuch – erstmals den Nutzen von embryonalen Stammzellen zur Behandlung einer Krankheit bewiesen. Dazu wurden aus embryonalen Stammzellen zunächst Gliazellen herangezüchtet und anschließend gereinigt. Diese wurden dann in das Gehirn einer kranken Ratte eingepflanzt, deren Nervenzellen keine isolierende Myelinscheide besaßen. Wie sich herausstellte, vermochten die eingepflanzten Gliazellen das fehlende Myelin zu ersetzen.

Eine Hürde auf dem Weg zu einem klinischen Einsatz könnten allerdings die Abstoßungsreaktionen sein: Da die Stammzellen, aus denen die Zelltransplantate erzeugt werden, nicht vom Patienten selber stammen, könnten diese das transplantierte Gewebe abstoßen. Manche Forscher denken deshalb darüber nach, die für die Abstoßungsreaktionen verantwortlichen Gene von vornherein aus dem Erbgut der Stammzellen zu entfernen. Andere wollen das Problem durch Anlegen von „Zellbanken“ umgehen: Ähnlich wie bei Blutspenden stünde dann für jeden Patienten immunologisch passendes Gewebe bereit.

Therapeutisches Klonen

Seit kurzem nun zeichnet sich am Horizont ein neues Verfahren ab, mit dem sich das Problem der Abstoßungsreaktion möglicherweise ganz vermeiden lässt. Doch mit dem „therapeutischen Klonen“ wird für viele Menschen eine weitere moralische Grenzlinie überschritten. Denn bei diesem Verfahren werden Embryonen eigens dafür hergestellt, um ihnen nach einer kurzen Wachstumsphase embryonale Stammzellen zu entnehmen. Anschließend zerstört man die Embryonen.

Beim „therapeutischen Klonen“ kommt dasselbe Verfahren zur Anwendung, dem das Klonschaf Dolly seine Existenz verdankt: der Zellkerntransfer ( vgl. Abb. ). Dem Patienten wird zunächst eine Körperzelle entnommen und daraus der Zellkern entfernt. Dieser wird anschließend in eine gespendete Eizelle geschleust, deren Zellkern zuvor entfernt wurde. Die neue Umgebung bewirkt, dass der Zellkern des Patienten in den embryonalen Zustand zurückversetzt wird. Die Entwicklung beginnt also von Neuem. Aus dem etwa fünf Tage alten Embryo – er befindet sich dann im so genannten Blastocysten-Stadium – werden die embryonalen Stammzellen geerntet.

Die Gewinnung von Stammzellen durch das therapeutische Klonen hat gegenüber der Verwendung von Stammzellen aus überzähligen oder aus abgetriebenen Embryonen einen gewichtigen Vorteil: Die aus den Zellen hervorgehenden Gewebe sind mit denen des Patienten genetisch identisch und sollten deshalb nach der Transplantation nicht abgestoßen werden. Ob das tatsächlich der Fall ist, weiß allerdings noch niemand. Denn bis heute wurde dieses Verfahren noch nie ausprobiert. In den USA ist das therapeutische Klonen erlaubt, sofern es mit privaten Mitteln finanziert wird. Und im Januar 2001 hat das britische Oberhaus das Klonen menschlicher Embryonen für therapeutische Zwecke freigegeben.

Doch an eine klinische Anwendung des umstrittenen Verfahrens ist heute nicht zu denken. So ist zum Beispiel noch vollkommen unklar, woher die Eizellen bezogen werden sollen. Auch besteht die Gefahr, dass die Transplantate, da sie ursprünglich aus erwachsenen Zellen erzeugt wurden, schneller altern als gewöhnlich. Außerdem gilt es abzuklären, ob die transplantierten Zellen sich in kontrollierter Manier teilen.

Lässt sich auf Embryonen verzichten?

In jüngster Zeit verdichten sich die Hinweise, dass auch die so genannten adulten Stammzellen ein großes medizinisches Potenzial aufweisen. Manche Experten plädieren deshalb dafür, die Forschung an embryonalen Stammzellen so lange zu verbieten, bis das Potenzial der adulten Stammzellen für die Medizin besser untersucht ist. Tatsache ist, dass auch der ausgewachsene Körper über Stammzellen verfügt. Einer breiten Öffentlichkeit schon lange bekannt ist beispielsweise die Blut-Stammzelle des Knochenmarks. Diese Zelle, aus der sämtliche Zellen des Blut- und Immunsystems hervorgehen, werden beispielsweise schon seit längerem bei der Behandlung von Leukämiepatienten verwendet.

Experten vermuten, dass die meisten Organe des menschlichen Körpers ein kleines Reservoir derartiger Stammzellen besitzen, das ständig neue Zellen nachliefert. Die meisten dieser Stammzellen harren allerdings noch ihrer Entdeckung. Im Unterschied zu den embryonalen oder pluripotenten Stammzellen werden die adulten Stammzellen multipotent genannt. Denn bisher glaubte man, dass sie in ihren Differenzierungsmöglichkeiten relativ eingeschränkt sind. So sollten aus einer Blut-Stammzelle ausschließlich Blut- und Immunzellen hervorgehen, und ähnlich sollte eine Hirn-Stammzelle nur die verschiedenen Zelltypen des Gehirns bilden. Doch diese alte Sichtweise muss auf Grund von jüngsten Forschungsergebnissen revidiert werden. Kürzlich publizierte Untersuchungen zeigen, dass diesen Stammzellen offenbar doch eine größere Flexibilität innewohnt.

Werden adulte Stammzellen nämlich in eine neue Umgebung gebracht, können sie zuweilen ein ungeahntes Potenzial entfalten. In einem Experiment implantierten Wissenschafter Blut-Stammzellen von erwachsenen Mäusen in andere Mäuse, deren Knochenmarkszellen zuvor mit hohen Strahlendosen zerstört worden waren. Einige Monate später zeigte sich, dass einige der Stammzellen sich in Neuron-ähnliche Zellen verwandelt hatten. In einem anderen Experiment wechselten Hirn-Stammzellen zu Blutzellen. Auch beim Menschen scheint es derartige Umpolungen zu geben. So wurde beobachtet, dass Blut-Stammzellen vom Knochenmark in die Leber einwandern und dort Leberzellen bilden können.

Diese Resultate lassen nun die Hoffnung zu, anstatt embryonaler Stammzellen adulte Zellen zur Zucht von Ersatzgewebe verwenden zu können. In der Praxis könnte der Ablauf wie folgt aussehen: Einem Patienten werden adulte Stammzellen – beispielsweise aus dem Knochenmark – entnommen, in Kultur vermehrt, nach Wunsch umgepolt und anschließend wieder injiziert. Mit der Verwendung von adulten Stammzellen ließen sich also sowohl die ethischen Probleme, welche die Nutzung von embryonalen Stammzellen aufwirft, als auch die Abstoßungs-Reaktionen umgehen.

Ob diese Hoffnungen begründet sind, wird sich weisen. Denn auch hier fehlt bislang das grundlegende Wissen, wie sich adulte Stammzellen umprogrammieren lassen. Ebensowenig lässt sich vorhersagen, wie sich die Zellen in der neuen Umgebung verhalten. Und schließlich gilt es, eine weitere klinisch relevante Frage zu beantworten: Lassen sich adulte Stammzellen überhaupt in genügendem Maße vermehren, um eine für die Transplantation ausreichende Zellmenge zu erreichen? Für viele Forscher bleiben daher die Vorzüge der embryonalen Stammzellen vorerst unangetastet: Sie wachsen sehr viel schneller als adulte Stammzellen und lassen sich unbegrenzt in Kultur halten. Sodann können sie sich zu allen Zelltypen ausdifferenzieren. Ferner lassen sich an diesen Zellen gezielte genetische Veränderungen vornehmen. Werden die embryonalen Stammzellen durch Klonen erzeugt, dann können sie außerdem Gewebe bilden, das mit jenem des Patienten genetisch identisch ist.



Die Forschung an embryonalen Stammzellen: Schema für das therapeutische Klonen beim Menschen

  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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