Lexikon der Chemie: Kolloide
Kolloide, kolloiddisperse Systeme, Moleküle oder Aggregate, die sich aus etwa 103 bis 109 Atomen zusammensetzen. Es kann sich dabei um Teilchen (Teilchendurchmesser 10-7 bis 10-9 m) oder dünne Filme (Dicke < 100 nm) handeln. K. nehmen eine Zwischenstellung zwischen den molekulardispersen und grobdispersen Verteilungen ein (disperses System). Zum Unterschied von den molekulardispersen Verteilungen läßt sich der Zustand eines K. nicht allein durch die Zustandsgrößen Druck, Temperatur und Konzentration beschreiben, sondern die Eigenschaften hängen noch ab von Größe, Gestalt und Struktur der Teilchen. Aufgrund des großen Verhältnisses von Oberfläche zum Volumen sind Kolloide thermodynamisch instabil. Diese Instabilität läßt sich mit Hilfe der Beziehung dG = γ dσ erklären. dG bedeutet die Änderung der freien Enthalpie, γ die Oberflächenspannung, dσ die Änderung der Oberfläche. Wenn sich die Oberfläche verringert, wird dσ negativ und damit auch dG. Eine Ausnahme bilden Tensidlösungen mit Konzentrationen oberhalb der kritischen Mizellenkonzentration (engl. critical micell concentration, Abk. CMC). In einer Mizelle lagern sich die Tensidmoleküle so zusammen, daß die hydrophoben Schwänze nach innen und die hydrophilen Köpfe nach außen in das umgebende Lösungsmittel zeigen. Die Bildungsenthalpie ist in wäßrigen Lösungen positiv. Da sich aber die Lösungsmittelmoleküle nach der Mizellenbildung freier bewegen können, nimmt die Entropie des Lösungsmittels zu. Dadurch wird die Entropieabnahme bei der Mizellenbildung kompensiert und die freie Enthalpie des Gesamtsystems wird negativ. K. werden am zweckmäßigsten in Dispersionskolloide, Assoziationskolloide und Molekülkolloide unterteilt.
I) Dispersionskolloide. Alle K., die prinzipiell durch Dispergierung herstellbar sind, bezeichnet man als Dispersionskolloide. Je nach dem Aggregatzustand von disperser Phase und Dispersionsmedium kann man folgende Dispersionen unterscheiden: Verteilungen von a) festen Teilchen in Gasen (Aerosol), b) Flüssigkeitströpfchen in Gasen (Nebel), c) gasförmige Teilchen in Flüssigkeiten oder Feststoffen (Schäume, feste Schäume), d) flüssige Teilchen in einer zweiten flüssigen Phase (Emulsion), e) feste Teilchen in Flüssigkeiten (Sole, Feststoffdispersion), f) flüssige Teilchen in Feststoffen, g) Dispersionen fester Teilchen in Feststoffen (gefärbte Gläser, Keramiken). Hochkonz. strukturierte Feststoffdispersionen werden Gele genannt.
Herstellung. 1) Bei den Dispergier- und Zerkleinerungsverfahren wird kompakte Materie durch Einwirken äußerer Kräfte zerteilt. Dabei können Bruchprozesse stattfinden, d. h. die in kompakter Form vorliegenden Primärteilchen werden gebrochen (Festkörper) oder zerrissen (Flüssigkeiten und Gase). Es können aber auch Teilchenaggregate getrennt werden, dann spricht man von Desaggregierung oder Dispergierung. Festkörper kann man in Kolloidmühlen zerkleinern, in denen grobe Teilchen in engen Scherspalten (≈ 0,05 mm Spaltbreite) einer starken mechanischen Beanspruchung ausgesetzt werden. Dispergieren kann man durch Ultraschalleinwirkung. Flüssigkeiten lassen sich durch Fliehkraftzerteilung dispergieren. Der Nachteil von Dispergierverfahren ist die geringe Energieausbeute (ein großer Teil der Energie wird in Wärme umgesetzt) und die breite Teilchengrößeverteilung. 2) Die Kondensationsverfahren sind von wesentlich größerer Bedeutung für die Herstellung von K. z. B. für Bild- und Datenaufzeichnungsmaterialien, Katalysatorträger, Polymerdispersionen. Ausgehend von molekularen Verteilungen sind prinzipiell jede Teilchengröße, homodisperse Systeme und außerdem Teilchen unterschiedlicher Gestalt herstellbar. Kolloide Teilchen erhält man sowohl aus hochkonz. (gesättigten oder übersättigten) Lösungen durch homogene Keimbildung oder aus sehr verd. Lösungen durch heterogene Keimbildung. Wichtig ist, daß der Teilchenwachstumsprozeß im gewünschten Größenbereich unterbrochen wird. Die bei der Herstellung mit anfallenden molekulardispersen Stoffe werden durch Dialyse oder Ultrafiltration (Filtration durch Membranfilter) abgetrennt. 3) Unter Peptisation versteht man die spontane Dispergierung von Aggregaten kolloider Teilchen, z. B. durch Adsorption potentialbestimmender Ionen. Die Teilchen erhalten dadurch eine gleichsinnige elektrische Ladung, die eine Abstoßung zwischen den Teilchen bewirkt.
Beständigkeit. Da Atome oder Moleküle an der Phasengrenze und nahe der Phasengrenze eine größere freie Energie aufweisen als im Inneren der Phase (Grenzflächenspannung), haben alle Dispersionskolloide das Bestreben, durch Verringerung der Oberfläche die freie Energie herabzusetzen. Eine Stabilisierung, d. h. eine Hemmung oder Verhinderung der Koagulation, kann man erreichen: a) wenn kolloide Teilchen eine genügend starke gleichsinnige elektrische Ladung tragen, die durch Dissoziation von Oberflächengruppen oder durch bevorzugte Ionenadsorption entsteht. Um die Teilchen befindet sich dann die gleiche Anzahl von entgegengesetzt geladenen Ionen, die die Oberflächenladung kompensieren. Durch die elektrostatische Abstoßung der gleichsinnig geladenen Teilchen wird deren gegenseitige Annäherung verhindert. Praktisch tragen alle Dispersionskolloide eine elektrische Ladung. Kolloide Metalle sind in der Regel negativ geladen, kolloide Oxide dagegen in Abhängigkeit vom pH-Wert negativ oder positiv; b) wenn die Kolloidteilchen eine starke Solvatschicht aufweisen, die die Annäherung der Teilchen behindert. Stark solvatisierte K. werden vielfach als lyophile K. bezeichnet; c) wenn man grenzflächenaktive Verbindungen, wie Tenside oder Makromoleküle, zusetzt. Die Tenside werden dann oft als Dispergatoren, Emulgatoren bzw. Schaumstabilisatoren bezeichnet, die Makromoleküle als Schutzkolloide. Sie verhindern durch ihre räumliche Ausdehnung ebenfalls das Zusammenwandern der dispergierten Teilchen. Genauso wichtig wie die Stabilisierung von K. (Arzneimittel, Latizes, Dispersionsfarben) ist ihre Zerstörung (Abwasser- und Gasreinigung, Entwässerung von Erdöl). So können K., die durch elektrische Abstoßungskräfte stabilisiert sind, durch Zusatz von Elektrolyten koaguliert werden. Die Wirkung der Elektrolyte beruht entweder darauf, daß vom Kolloidteilchen die entgegengesetzt geladene lonensorte (Gegenionen) adsorbiert und dadurch das Teilchen entladen wird (Neutralisationskoagulation) oder daß die Reichweite der elektrostatischen Abstoßungskräfte durch Kompression der diffusen elektrischen Doppelschicht abnimmt, was dazu führt, daß die von den sich annähernden Teilchen zu überwindende Energiebarriere erniedrigt wird (DLVO-Theorie). Die Wirksamkeit eines Elektrolyten ist um so größer, je höher die Wertigkeit des Gegenions ist. Die Schwellenwerte der Koagulationskonzentrationen ein-, zwei- und dreiwertiger Gegenionen verhalten sich wie 10000 : 50 : 1 (Schulze-Hardy-Regel).
Bestimmung der Teilchengröße. Dispersionskolloide haben nur in Ausnahmefällen eine einheitliche Teilchengröße, in der Regel sind sie polydispers. Die Eigenschaften werden durch den Dispersionsgrad und die Polydispersität beeinflußt. Die mittlere Teilchengröße kann bestimmt werden durch osmotische Messungen aus der Diffusionsgeschwindigkeit, durch Streulicht- oder Trübungsmessungen und Elektronenmikroskopie. Die letztere Methode und Sedimentationsanalysen im Schwere- oder Zentrifugalfeld gestatten auch, Teilchengrößenverteilungen zu ermitteln.
Eigenschaften. 1) Elektrische Eigenschaften: Kolloide Teilchen wandern im elektrischen Feld. Das Potential, das an der Scherfläche Teilchen/Elektrolytlösung auftritt, wird Zetapotential oder elektrokinetisches Potential genannt. Das Potential an der Scherebene ist kleiner als das Oberflächenpotential, das man aus der Anzahl der Ladungsträger je Flächeneinheit an der Oberfläche berechnet, es entspricht etwa dem Sternpotential (elektrochemische Doppelschicht). In Kapillarsystemen beobachtet man beim Anlegen eines elektrischen Feldes eine Wanderung der flüssigen Phase, die Elektroosmose. An der Scherebene entsteht wieder das elektrokinetische Potential. Läßt man eine Flüssigkeit nicht unter dem Einfluß eines elektrischen Feldes, sondern unter Druck an einer Festkörperoberfläche entlang strömen, bildet sich ein Strömungspotential aus. Bei der Sedimentation von Teilchen unter Einfluß der Schwerkraft stellt sich entsprechend ein Sedimentationspotential ein. 2) Optische Eigenschaften: Kolloide Lösungen zeigen eine starke Lichtstreuung (Tyndall-Phänomen). Stäbchenförmige und blattförmige anisometrische Teilchen (z. B. Vanadiumpentoxidsole) orientieren sich bei Strömungsvorgängen. Man beobachtet Strömungsdoppelbrechung, d. h., zwischen zwei gekreuzten Nicolschen Prismen tritt eine Aufhellung auf. 3) Rheologische Eigenschaften: Die Viskosität kolloider Lösungen hängt neben der Teilchenkonzentration und Temperatur von der Teilchenform, von der Teilchengröße bei anisometrischen Teilchen und von den Wechselwirkungskräften zwischen den dispersen Teilchen ab. Bei starken Wechselwirkungskräften treten sehr hohe Viskositäten auf, z. B. in Gelen. Die Viskosität gehorcht in diesen Fällen nicht dem Newtonschen Reibungsgesetz, sondern ist abhängig von der Schubspannung (Strukturviskosität, Thixotropie, Dilatanz).
II) Assoziationskolloide (Mizellkolloide). Dies sind K., die beim Auflösen molekulardisperser Substanzen in einem geeigneten Lösungsmittel oberhalb einer bestimmten Konzentration spontan gebildet werden. Zu diesen Substanzen gehören niedermolekulare grenzflächenaktive Stoffe (Tenside), deren bekanntester die Seife ist. Die Eigenschaft, Assoziationskolloide zu bilden, beruht auf dem Bauprinzip dieser Moleküle, die aus einem hydrophoben und einem hydrophilen Teil bestehen. Der hydrophobe Teil besteht aus Kohlenwasserstoffgruppen und zwar Alkyl-, Alkenyl-, Aryl-, oder Alkylarylresten. Als hydrophile Gruppen kommen Carboxyl-, Sulfat-, Sulfonat-, Phosphat-, Polyalkohol- und Polyethergruppen in Frage. Die Assoziatbildung ist nicht auf wäßrige Lösungen beschränkt. Man kann z. B. auch Mizellen in Benzol oder Octan nachweisen. Die physikalischen Eigenschaften einer wäßrigen Lösung grenzflächenaktiver Stoffe ändern sich bei Steigerung ihrer Konzentration mehr oder weniger sprunghaft. Die Konzentration, bei der diese Änderung eintritt, nennt man kritische Konzentration der Mizellbildung (engl. critical micell concentration Abk. CMC). Diese hängt ab von der Kettenlänge des Kohlenwasserstoffrestes, in geringerem Maße von der Natur der hydrophilen Gruppe, vom Elektrolytgehalt in der Lösung und von der Temperatur. Sie ist unabhängig vom Wege, auf dem sie erreicht wird, d. h., ob man verd. Lösungen konzentriert oder umgekehrt konz. Lösungen verdünnt. Demnach handelt es sich um ein echtes thermodynamisches Gleichgewicht zwischen Einzelmolekülen und Assoziaten. Das Löslichkeitsverhalten von Tensiden als Funktion der Temperatur unterscheidet sich stark vom Löslichkeitsverhalten anderer niedermolekularer Verbindungen. Bei niedrigen Temperaturen ändert sich die Löslichkeit zunächst nur wenig, ab einer für den Stoff charakteristischen Temperatur, dem Krafft-Punkt, wächst die gelöste Menge stark an. Umgekehrt scheidet sich bei dieser Temperatur beim Abkühlen das Tensid schlagartig aus. Die Temperatur des Krafft-Punktes liegt in einer homologen Reihe um so höher, je länger der Alkylrest ist. Das Auftreten des Krafft-Punktes ist mit der Assoziatbildung in der Lösung verbunden. Bei niedrigen Temperaturen ist die Löslichkeit des Tensids gering, so daß die CMC noch nicht erreicht wird. Wird bei Temperaturerhöhung die CMC überschritten, nimmt die Löslichkeit stark zu.
Die CMC kann ermittelt werden durch 1) Messen der Oberflächenspannung, die beim Erreichen der CMC konstant wird; 2) Messen der elektrischen Leitfähigkeit, die beim Erreichen der CMC stark verringert wird; 3) Messen der Brechungskoeffizienten, wobei sich unter- und oberhalb der CMC Geraden unterschiedlicher Neigung ergeben; 4) Streulicht- oder Trübungsmessungen, die als Funktion der Tensidkonzentration Kurven ergeben, die unterhalb der CMC eine geringere Neigung aufweisen; 5) Messen des Absorptionsspektrums, da sich dieses bei manchen Tensiden für Einzelmoleküle und Mizellen unterscheidet; 6) Messen der elektromotorischen Kraft (EMK). Eine Reihe von Tensiden bildet unlösliche Quecksilbersalze, man kann deshalb eine Quecksilberelektrode bezüglich der Tensid-Ionen als Elektrode 1. Art ansehen, deshalb ändert sich die EMK entsprechend der Nernst-Gleichung bis zum Erreichen der CMC; 7) polarographische Methoden, wobei sowohl gleichstrompolarographische Untersuchung der Maximadämpfung als auch wechselstrompolarographische Messung der Adsorption angewendet werden kann. Diese Methode ist wegen des Elektrolytzusatzes jedoch nur für nichtionische Tenside geeignet; 8) Solubilisation von Tensiden. Die Lichtabsorption wasserlöslicher Farbstoffe ändert sich beim Einbau in die Mizellen. Die Mizellgröße ist oberhalb der CMC konstant, d. h., das System ist isodispers oder monodispers. Die Struktur der Mizelle ist im Bereich der CMC als kugelförmig anzusehen, wobei sich in wäßrigen Medien die polaren Gruppen an der Peripherie und die Alkylreste im Mizellinneren befinden (Kugelmizellen). Bei hohen Tensidkonzentrationen können sich Laminarmizellen bilden.
III) Molekülkolloide bestehen aus Molekülen kolloider Dimension. Im Unterschied zu den Dispersions- und Assoziationskolloiden, die durch Nebenvalenzkräfte verbunden sind, sind die Bausteine des kolloiden Teilchens, dem Molekül, durch Hauptvalenzkräfte untereinander verbunden. Beispiele für Molekülkolloide sind die Lösungen von Eiweißen, Cellulose, Kautschuk und synthetischen makromolekularen Verbindungen. Die einzelnen Makromoleküle können in der Lösung noch durch Nebenvalenzkräfte zu größeren Aggregaten verbunden sein (z. B. Biokolloide). Die Mehrzahl der makromolekularen Lösungen besteht aus Teilchen unterschiedlicher Größe, sie sind polymolekular (polydispers). Die mittlere Teilchengröße kann nach den bei den Dispersionskolloiden aufgezählten Methoden bestimmt werden. Ferner kann man die mittlere Größe von Makromolekülen mit Fadenstruktur (Linearkolloide) aus Viskositätsmessungen ermitteln.
Kolloide Lösungen mit kugelförmigen Teilchen bezeichnet man auch als Sphärokolloide. Heute ungebräuchliche Begriffe sind Hemikolloide, Mesokolloide, die sich lediglich in ihrer Moleküllänge unterscheiden.
K. haben große Bedeutung in Natur und chem. Technik. So sind z. B. Blut, Protoplasma, Milch, Butter, Hautpflegemittel, Klebstoffe und Arzneimittel K.. Kolloidchem. Vorgänge sind Wasch- und Färbereiprozeß, Schmierung, Flotation, Emulsionspolymerisation, Entstaubung. Etwa 1/10 aller Minerale, z. B. Hämatit, Manganit, Opal und die Zeolithe, sind aus kolloidchem. Prozessen hervorgegangen. Im Boden sind kolloide Vorgänge wichtig für das Pflanzenwachstum. Im Kosmos finden sich ebenfalls kolloide Strukturen, die die Ursache der Wolkenbildung sind. Auch Gasdispersionen haben in der Technik Bedeutung, z. B. wendet man Sauerstoffhydrosole bei der Leinöl- und Paraffinoxidation, Wasserstoffhydrosole bei großtechnischen Hydrierungen an.
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