Lexikon der Ernährung: Hunger-Sättigungs-Theorien
Hunger-Sättigungs-Theorien, verschiedene Theorien zur Erklärung der – postabsorptiven – Regulation von Energie-(Nahrungs-)aufnahme und Energieabgabe als zentrale Teile der an der Appetitregulation beteiligten Mechanismen. Zumindest beim Menschen hängt die Nahrungsaufnahme stark von sozialen oder kulturellen Faktoren ab. Daneben ist aber beim Menschen wie auch bei allen anderen Tierarten die Nahrungsaufnahme ein genau geregelter Prozess, der vor allem sicher stellen soll, dass dem Organismus alle lebensnotwendigen Nährstoffe in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen, um das normale Ablaufen der Körperfunktionen zu gewährleisten. Damit ergibt sich eine enge Kopplung der Nahrungsaufnahme mit der Energieabgabe und damit letztlich auch der Konstanthaltung des Körpergewichts. Wie diese Kopplung vor sich geht, soll mit Hilfe der verschiedenen H. erklärt werden (Tab.).
Die Gültigkeit der glucostatischen Sättigungstheorie scheint nach neueren Erkenntnissen vor allem darin begründet zu sein, dass kurzfristige Schwankungen des Blutzuckerspiegels, d. h. ein wenige Minuten andauernder Abfall des Blutzuckerspiegels, ein wichtiges Signal zur Auslösung einer Mahlzeit darstellt. Dieser kurzfristige Abfall des Blutzuckerspiegels wird offensichtlich in Glucose-sensitiven Neuronen des Hypothalamus sowie der Medulla oblongata und in den Endigungen hepatischer vagaler Afferenzen registriert.
Die lipostatische Sättigungstheorie scheint prinzipiell nach heutigem Wissen die Mechanismen, die an der langfristigen Regulation der Nahrungsaufnahme und der Konstanthaltung des Körpergewichts beteiligt sind, am treffendsten zu erklären. Allerdings ging Kennedy ursprünglich von Metaboliten als Rückkopplungssignale aus und nicht, wie man heute annimmt, von Hormonen. Als Rückkopplungssignale kommen nach heutiger Ansicht sowohl die Plasmakonzentration des pankreatischen β-Zell-Hormons Insulin als auch des aus dem Fettgewebe selbst stammenden Hormons Leptin in Betracht. Die Konzentration beider Hormone steigt mit zunehmender Größe der Körperfettdepots an, und sowohl Insulin als auch Leptin hemmen die Nahrungsaufnahme über eine Wirkung auf den Hypothalamus, wo sie mehrere Neurotransmitter- und Neuropeptid-Systeme beeinflussen. Über diesen Einfluss und die stimulierende Wirkung von Leptin auf die Energieabgabe ist im Körper ein Regelsystem zur Konstanthaltung der Körperfettreserven und damit des Körpergewichts ausgebildet.
Die thermostatische Sättigungstheorie, die Ende der 40er Jahre aufgestellt wurde, sieht die Nahrungsaufnahme als eigentlichen Mechanismus der Thermoregulation. Diese Theorie, die im engeren Sinne heute nicht mehr haltbar ist, sieht die Nahrungsaufnahme als eigentlichen Mechanismus der Thermoregulation, wonach Sättigung aus dem thermischen Effekt der Nahrung resultiert. Obwohl thermische Signale sicherlich die Nahrungsaufnahme beeinflussen können, ist die Idee von einer Nahrungsaufnahme als eigentlichem Mechanismus der Thermoregulation heute überholt.
In der oben beschriebenen glucostatischen Theorie wird davon ausgegangen, dass spezifisch die Verstoffwechselung von Kohlenhydraten ein Sättigungssignal auslöst. Neben Kohlenhydraten wird aber, vor allem in der Leber, auch die Verstoffwechselung von Fettsäuren gemessen und durch geeignete Sensoren in ein Sättigungssignal umgesetzt. Diese die Nahrungsaufnahme beeinflussenden Signale, die während der postabsorptiven Verstoffwechselung entstehen, sind aber offensichtlich nicht auf einzelne Nährstoffe beschränkt. Vielmehr wird die Verstoffwechselung energieliefernder Metaboliten allgemein gemessen, wobei der aus der mitochondrialen Oxidation dieser Nährstoffe resultierende Zugewinn an Adenosintriphosphat (ATP) direkt mit dem Verzehr von Nahrung zu korrelieren scheint (d. h. hohe Verstoffwechselung bedeutet hohen Zugewinn an ATP, dies führt zur Sättigung). Diese Zusammenhänge werden in der sog. energostatischen Sättigungstheorie zusammengefasst. Dieser Begriff wurde von Booth geprägt und von Friedmann weiterentwickelt. Diese Theorie steht zumindest indirekt mit den gluco-, lipo-, und thermostatischen Theorien in Verbindung. Gemäß der energostatischen Theorie stellt die hepatische ATP-Konzentration, die gebunden ist an die Oxidation der Nährstoffe zu ATP, das entsprechende Sättigungssignal dar.
Im Unterschied zu den besprochenen H. kommt der aminostatischen Sättigungstheorie nach heutiger Auffassung in ihrer ursprünglichen Auslegung keine große Bedeutung mehr zu. Ausgangspunkt dieser von Mellnikoff in den 50er Jahren formulierten Theorie war die Beobachtung, dass das Hungergefühl bei Menschen invers mit dem Gehalt an Aminosäurenstickstoff im Blutplasma korreliert ist. Die durch die Verabreichung von Aminosäuren auslösbare Verzehrsreduktion kommt aber nach heutigem Wissen wahrscheinlich nur aufgrund der energieliefernden Eigenschaft von Aminosäuren zu Stande.
Auch die Gültigkeit der glycogenostatischen Sättigungstheorie wird heute stark angezweifelt. Diese Theorie geht von einem Zwei-Kompartimente-Modell aus, in dem neben dem Glycogenspeicher der Leber (Glycogenkompartiment) die Fettdepots des Körpers eine wichtige Rolle spielen. Nach heutiger Kenntnis kommt allerdings vor allem lipostatischen Regulationsmechanismen eine bedeutende Rolle bei der langfristigen Regulation der Nahrungsaufnahme und der Konstanthaltung des Körpergewichts zu.
Hunger-Sättigungs-Theorien: Tab.
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aminostatische Sättigungstheorie | Mellnikoff | Aminosäurenstickstoff im Blutplasma | überholt | |
Boundary-Modell | ||||
energostatische Sättigungstheorie | Booth, Friedmann | ATP / ADP-Quotient in Leberzellen | ||
glucostatische Sättigungsthorie | Mayer | Blutzuckerspiegel | ||
glycogenostatische Sättigungstheorie | überholt, vgl. glucostatische Sättigungstheorie | |||
lipostatische Sättigungstheorie | Kennedy | Insulin-Plasmakonzentration, Leptin-Plasmakonzentration | ||
thermotatische Sättigungstheorie | Brobeck | thermischer Effekt der Nahrung | überholt, im weiteren Sinne jedoch neuerdings Bezüge zur glucostatischen Sättigungstheorie |
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