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Lexikon der Neurowissenschaft: Selbstbewußtsein

Selbstbewußtseins, Ich-Bewußtsein, Eself-conciousness, das Bewußtsein, eine eigene Person, eine Einheit mit eigener Identität und Kontinuität zu sein. Die Depersonalisation ist eine Störung des Selbstbewußtseins. Bewegung, Leib-Seele-Problem, mentale Repräsentation, Persönlichkeit und Personalität.

In der Philosophie, Kognitionspsychologie und Neurowissenschaft bezeichnen Selbst- und Ich-Bewußtsein eine komplexe kognitive Eigenschaft oder Fähigkeit bzw. einen Sonderfall von Bewußtsein höherer sozialer Organismen, die eine spezielle Form des Wissens, der Repräsentation und der Zuschreibung ermöglicht. Selbst- und Ich-Bewußtsein sind nicht von Anfang an vorhanden, sondern entstehen ausgehend von angeborenen Dispositionen im komplexen Wechselspiel mit der physischen und sozialen Umwelt, und sie hängen von einer subjektiven Perspektivität infolge eines zentrierten Informationserwerbs durch die Sinnesorgane ab (Exterorezeption), von einer Körperwahrnehmung durch weitere Sinnesorgane (Propriorezeption) und durch die Erfahrung und Ergebnisse der eigenen Handlungen. Man kann unterscheiden zwischen: 1) Primäres Selbstbewußtsein (E primary self-consciousness): Es ist implizit und durch einen phänomenalen Gehalt der Meinigkeit gekennzeichnet, d.h. einen Sinn, sich selbst zu gehören (E sense of ownership). 2) Höherstufiges Selbstbewußtsein(E higher-order self-consciousness): Es ist explizit, reflexiv und begrifflich. Dazu gehören Selbstwahrnehmung oder Selbstbewußtsein im engeren Sinn (E self-awareness), Selbsterkennen (E self-recognition) z.B. im Spiegel (was nur bei Menschen ab etwa dem 18. bis 24. Lebensmonat, bei Menschenaffen und neuerdings auch bei Delphinen nachgewiesen ist; Spiegelbild-Erkennung), Selbstwissen (E self-knowledge) – ein spezifisches Wissen (de se-Attribution), über das man sich nicht täuschen kann wie z.B. über Wahrnehmungen oder über Sachverhalte, die externe Fakten betreffen – und Introspektion. Ich-Bewußtsein(E I-consciousness) ist eine besonders elaborierte Form dieses höherstufigen Selbstbewußtseins, die verbalisierbar, d.h. an Sprache gebunden ist, eine Perspektive der ersten Person und somit eine Subjekt-Objekt-Trennung ermöglicht und auf einem Selbstmodell(E self-model) basiert (Persönlichkeit und Personalität). Dadurch werden autonome Handlungen möglich (Wählen, Willensfreiheit), d.h. eine Selbstbestimmung, die nicht auf ein rein Reiz-Reaktion-bedingtes Verhalten reduzierbar ist. Außerdem entsteht ein autobiographisches Selbst, das auf dem episodischen Gedächtnis beruht und z.B. bei einer transienten globalen Amnesie vorübergehend erlischt. – Ein elaboriertes Selbstbewußtsein scheint in der Evolution bei Arten selektiert worden zu sein, die in komplexen Sozialgefügen leben, wo es z.B. darauf ankommt, die Aktionen der Gruppenmitglieder abzuschätzen, bei altruistischem Verhalten nicht ausgenutzt zu werden und sich selbst in den Hierarchien durch Bündnisse nach oben zu arbeiten und so den Fortpflanzungserfolg zu steigern. Rudimentäre Formen von Selbstbewußtsein und mentalen Fähigkeiten allgemein, ja des Nervensystems generell, scheinen dagegen eine Voraussetzung für die Motorik vielzelliger Lebewesen zu sein. Sensomotorische Repräsentationen und die Fähigkeit, kurzfristige künftige Bewegungen von Objekten in der Umwelt vorauszusehen und bei der Steuerung des eigenen Verhaltens zu berücksichtigen, sind nämlich wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung komplexer Bewegungen. Das Selbst ist gleichsam die Zentralisierung dieser Handlungssteuerung; es muß aber nicht notwendig bewußt sein. Antonio Damasio unterscheidet daher zwischen unbewußtem Proto-Selbst sowie bewußtem Kernselbst und autobiographischem Selbst ( siehe Tab. ). Aus Experimenten wurde geschlossen, daß die rechte Großhirnhälfte teil hat an den Prozessen, die Selbstbewußtsein zugrunde liegen. Das paßt zu Befunden aus der Neuropsychologie: Manche Menschen leiden an der Unfähigkeit, ihre eigenen Gliedmaßen wahrzunehmen oder korrekt zu identifizieren (Asomatognosie), wenn ihre rechte Hemisphäre beschädigt oder betäubt ist. Und Patienten mit Läsionen im rechten Frontallappen und vorderen Schläfenlappen erleben eine kognitive Loslösung von sich selbst oder, bei der Frontallappendemenz, eine drastische Persönlichkeitsänderung, die z.B. politische und religiöse Einstellungen ebenso ändern kann wie die bevorzugte Speise oder Mode. – Bei selbstbezüglichen mentalen Aktivitäten spielt der mediale präfrontale Cortex (MPFC) eine wichtige Rolle. Studien mit Positronenemissionstomographie und funktioneller Kernspinresonanztomographie zeigten, daß der dorsale MPFC bei selbstreferentiellen Gedanken aktiver wurde, während die Aktivität des ventralen MPFC dabei sowie bei umweltbezogenen Gedanken zurückging. Der ventrale MPFC erhält eine Vielzahl sensorischer Informationen des Körpers und der externen Umwelt vom orbitofrontalen Cortex und steht in enger Verbindung mit der Amygdala, dem ventralen Striatum, Hypothalamus, periaquäduktalen Grau und den autonomen Nuclei im Hirnstamm, was darauf hindeutet, daß er externe, interne und emotionale Informationen integriert (Emotionen) und beim Wählen eine Rolle spielt. Der dorsale MPFC (Teile der Brodmann-Areale 8, 9 und 10) ist bei selbsterzeugten, d.h. reizunabhängigen Gedanken, absichtlichem Sprechen, Tagträumen, Vorstellungen und Selbstbeobachtungen aktiv und scheint also eine neuronale Grundlage für explizite Repräsentationen von einem selbst, d.h. für Ich-Bewußtsein und autobiographisches Selbst, zu sein.

R.V.

Lit.: Bermúdez, J.L., Marcel, A., Eilan, N. (Hrsg.): The Body and The Self. Cambridge 1995. Bermúdez, J.L.: The Paradox of Self-Consciousness. Cambridge 1998. Cassam, Q. (Hrsg.): Self-Knowledge. Oxford 1994. Damasio, A.R.: Ich fühle, also bin ich. München 2000. Frank, M. (Hrsg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Frankfurt am Main 1991. Frank, M. (Hrsg.): Analytische Theorien des Selbstbewußtseins. Frankfurt am Main 1994. Gallagher, S.: Philosophical conceptions of the self: implications for cognitive science. Trends in Cognitive Science 4, Nr. 1, S. 14-21 (2000). Gallagher, S., Shear, J. (Hrsg.): Models of the Self. Thorverton 1999. Kienzle, B., Pape, H. (Hrsg.): Dimensionen des Selbst. Frankfurt am Main 1991. Llinás, R.: I of the Vortex. Cambridge, London 2001. Metzinger, T.: Subjekt und Selbstmodell. Paderborn 1993. Taylor Parker, S., Mitchell, R.W., Boccia M.L. (Hrsg.): Self-Awareness in Animals and Humans. Cambridge 1994. Vaas, R.: Evolving language, I-consciousness and free will. In: Dessalles, J.-L., Ghadakpour, L. (Hrsg.): Evolution of Language. Paris 2000, S. 230-235.

Selbstbewußtsein

Stufen und neuronale Grundlagen des Selbst

Stufen des Selbst hypothetische neuronale Grundlagen
Proto-Selbst: Ansammlung von wechselseitig verbundenen und zeitweise zusammenhängenden neuronalen Mustern (Repräsentationen erster Ordnung), die den Zustand des
Organismus von Augenblick zu Augenblick auf verschiedenen
Ebenen des Gehirns repräsentieren. Wir sind uns des Proto-Selbst nicht bewußt.
phylogenetisch alte Hirnstrukturen überwiegend nahe der Mittellinie, die an der Körperregulation
und -repräsentation beteiligt sind: Hirnstammkerne, Hypothalamus, somatosensorische Rindenfelder, insbesondere rechtsseitig
Kernselbst: stabiler, einfacher, uns bewußter Teil nichtsprachlicher Repräsentationen zweiter Ordnung, der durch Modifikationen des Proto-Selbst durch Objekte (z.B. externer Gegenstand oder Körperzustand) hervorgerufen wird. Das Kernselbst ist Teil des Kernbewußtseins, das ganz in der Gegenwart verhaftet ist. Colliculi superiores im Tectum des hinteren Mittelhirn, cingulärer Cortex, Thalamus, einige präfrontale Rindenfelder; Modulation durch cholinerge und monoaminerge Kerne im basalen Vorderhirn und Hirnstamm sowie durch thalamocorticale Prozesse
autobiographisches Selbst: veränderliches, komplex strukturiertes, uns bewußtes und in der Regel (aber nicht notwendig) auch sprachliches Selbstmodell, das eine personale Identität konstituiert und auf dem episodischen Gedächtnis, vielen impliziten
Erinnerungen und der antizipierten Zukunft sowie der sozialen Umgebung (Kultur) beruht. Es basiert auf permanenten, aber dispositionalen Aufzeichnungen von Kernselbst-Erfahrungen, die in explizite Vorstellungen verwandelt werden und sich ändern können. Das autobiographische Selbst ist Teil des erweiterten Bewußtseins, das die Gegenwart transzendiert (Zeit und Gehirn).
Hippocampus, präfrontaler Cortex, weite Bereiche der Großhirnrinde
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