Lexikon der Psychologie: Ökonomische Psychologie
Essay
Ökonomische Psychologie
Erwin Kirchler und Erik Hölzl
Fragestellungen und Grundannahmen der Ökonomischen Psychologie
Die Ökonomische Psychologie entwickelte sich ab den 70er Jahren zu einer eigenständigen Disziplin der Angewandten Psychologie. Im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Ökonomie wird das Erleben und Verhalten, v.a. das Entscheidungsverhalten im wirtschaftlichen Kontext, auf unterschiedlichen Aggregatsstufen untersucht: Individuum, private Haushalte, Betriebe und Staat ( Abb. ).
a) Der wirtschaftliche Kontext von Individuen, Haushalten und Betrieben wird von den allgemeinen Wirtschaftsbedingungen beeinflußt. Zu untersuchen sind Beziehungen zwischen der allgemeinen Wirtschaftslage und den Möglichkeiten von Haushalten und Firmen, ökonomische Handlungen zu setzen. b) Die beteiligten Akteure handeln auf Basis ihrer subjektiven Interpretation wirtschaftlicher Bedingungen. Der wahrgenommene Wirtschaftskontext wird je nach Eigenheiten der Akteure (Persönlichkeit, Ziele) unterschiedlich sein und in Verbindung mit den Umgebungsbedingungen ihr wirtschaftliches Handeln beeinflussen. Zu untersuchen ist die Wahrnehmung der Wirtschaftslage und deren Beziehung zu wirtschaftlichem Handeln (insbesondere Kauf-, Arbeits- und Steuerverhalten). c) Wirtschaftliche Entwicklungen schlagen sich auch in individuellem Wohlbefinden nieder, das sich über die Gesamtheit wirtschaftender Personen zum gesamtgesellschaftlichen Stimmungsbild verdichtet. Die Ökonomische Psychologie untersucht Zusammenhänge zwischen individuellem Befinden, Konsumenten- und Produzentenstimmung und wirtschaftlichem Handeln.
Insbesondere in (neo-) klassischen Ansätzen der Ökonomie wird angenommen, daß Menschen rational handeln und ihr Verhalten der Maximierung eines bestimmten Zieles dient. Empirische Forschung fand allerdings verschiedene Anomalien und Verletzungen des Rationalitätsprinzips. So setzen Akteure verkürzende Urteilsheuristiken ein, statt die gesamte Information zu verwenden. In Entscheidungen mit unsicherem Ausgang wählen Akteure trotz objektiv gleicher Situation je nach Darstellung (framing) der Situation unterschiedliche Alternativen. Bei wiederholten Entscheidungen, in denen die Problemdarstellung verändert wird, finden sich häufig Veränderungen der Präferenzordnung. Diese Phänomene stellen ökonomische Rationalitätsannahmen in Frage.
Alltagsverständnis von Ökonomie
Die Untersuchung von Laientheorien wirtschaftlicher Phänomene ermöglicht Erklärungen für sonst "irrational", unwirtschaftlich erscheinendes Verhalten von Individuen, Firmen oder Institutionen. Laien nehmen komplizierte ökonomische Zusammenhänge wie Staatsverschuldung, Wirtschaftskrisen oder Arbeitslosigkeit nicht nur unvollständiger, sondern auch anders strukturiert wahr. Im Gegensatz zu Fachleuten formen Laien ihre Vorstellungen von Wirtschaft nicht aufgrund von Expertenwissen und gezielter Informationssuche, sondern vor allem auf Basis von alltäglichen Erfahrungen und Medienberichtee. Die so entstehenden kognitiven Schemata dienen zur Erklärung wirtschaftlicher Phänomene und zur Handlungsplanung. Mit Rückgriff auf Attributionstheorien und die Theorie Sozialer Repräsentationen wird die Ausformung dieser Schemata analysiert. Untersuchungen zeigten, daß in Laienvorstellungen z.B. Armut häufig als internal verursacht gesehen wird, d.h. im Einflußbereich der betreffenden Person oder Gruppe liegend. Armen Leuten fehle demnach Initiative und Engagement; ökonomische oder politische Ursachen wären vernachlässigbar. Auf Basis dieser Laientheorien wäre ein mangelnder Erfolg von Appellen für Solidarität mit ärmeren Bevölkerungsschichten erklärbar.
Nachfrage nach Konsumgütern in privaten Haushalten.
Während sich Marketingexperten primär mit dem Angebot an Konsumgütern beschäftigen, wird im Rahmen der ökonomischen Psychologie das Nachfrageverhalten von Einzelnen, privaten Haushalten und Betrieben untersucht, v.a. ökonomische Entscheidungen in privaten Haushalten (Kaufentscheidungen, Geldmanagement, Sparentscheidungen, Vermögens- und Anlagemanagement).
1) In normativen Modellen werden Kaufentscheidungen als Prozesse mit klarem Beginn und Ende konzipiert, die sich in Wunsch-, Informationssammlungs- und Bewertungsphasen unterteilen lassen und rationales Entscheiden nahelegen. Allerdings ist fraglich, ob diese Modelle geeignet sind, die Komplexität von Entscheidungen in privaten Haushalten abzubilden.
2) Deskriptive Modelle hingegen gehen vom komplexen Alltagsgeschehen aus und versuchen, mit Hilfe von Tagebuchverfahren den Prozeß der Entscheidungsfindung zwischen Partnern (z.B. abhängig von der Beziehungsstruktur) zu beschreiben. Demnach werden bei Entscheidungen gleichzeitig zwei Ziele verfolgt: Einerseits wollen sie ihre egoistischen Wünsche durchsetzen, andererseits wollen sie ein gewisses Maß an Beziehungsqualität erhalten. Vor allem in harmonischen Beziehungen dürften die Partner bestrebt sein, Rücksicht auf die Wünsche des anderen zu nehmen und den gemeinsamen Nutzen zu maximieren. In unglücklichen Beziehungen hingegen ist anzunehmen, daß bestehende Machtunterschiede zwischen den Partnern ausgenützt werden, um egoistische Wünsche durchzusetzen. Ökonomische Entscheidungen sind in andere, scheinbar triviale Aktivitäten des Alltags eingebettet; sie werden nicht am runden Tisch getroffen, sondern während anderer Tätigkeiten, die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Problem abziehen.
Nachfrage und Angebot von Arbeit
Aus der Sicht der Ökonomie sind Märkte, also auch der Arbeitsmarkt, durch das Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage bestimmt. Arbeitnehmer sind bei steigenden Löhnen eher bereit, ihre Arbeitskraft anzubieten; Unternehmer stellen jedoch zu höheren Löhnen eher weniger Arbeitnehmer ein. Am Schnittpunkt der Angebots- und Nachfragekurve ergibt sich der sogenannte Gleichgewichtslohn, an dem sich laut ökonomischer Theorie die Löhne einpendeln müssen. In der Realität findet man jedoch häufig Unternehmen, die Löhne über dem theoretischen Gleichgewichtslohn zahlen. Aus psychologischer Sicht sind höhere Löhne "Geschenke” der Unternehmer an die Arbeitnehmer, die an Normen von Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung appellieren. Hier sind also nicht Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern soziale Normen dafür verantwortlich, daß auf höhere Löhne mit höherer Leistung reagiert wird. Empirische Untersuchungen zeigen, daß unter Bedingungen, in denen Reziprozität möglich ist, die Gesetze von Angebot und Nachfrage durch Kooperation, Fairneß und Vertrauen, abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt werden. In Experimenten von Fehr, Kirchler, Weichbold und Gächter (1998; Kirchler, 1999) wurden Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Interaktionen in Lohnverhandlungen simuliert. Die "Arbeitgeber" konnten Löhne anbieten, die "Arbeitnehmer" mußten danach angeben, wie hoch ihre Leistung zum angebotenen Lohn wäre. Einen hohen Lohn anzubieten, stellte ein Risiko dar, da keinerlei Gewähr für die Kooperation der "Arbeitnehmer" gegeben war. Trotz des Risikos zeigte sich, daß Reziprozitätsnormen auch auf experimentellen Arbeitsmärkten wirksam sind. Die gebotenen Löhne blieben deutlich über der von der ökonomischen Theorie vorhergesagten Lohnhöhe und die Leistungsniveaus der Arbeiter deutlich über dem Minimum. Die Zusammenhänge zwischen Lohnhöhe und Leistungsniveau waren positiv: Höhere Löhne führen somit zu höheren Leistungsniveaus. In der Kontrollgruppe ohne Möglichkeit zur Reziprozität folgten die Ergebnisse hingegen tendenziell den ökonomischen Voraussagen: Die Lohnhöhe näherte sich dem vorhergesagten Minimum. Unternehmer können somit durch ihre Entscheidungen die Arbeitsmarktlage durchaus beeinflussen.
Individuum, Gemeinschaft und Wirtschaft
Beim Wechselspiel zwischen individuellen und gemeinschaftlichen ökonomischen Interessen entstehen soziale Dilemmata: Für die Einzelperson ist es von Vorteil, nicht zu kooperieren – für die Gemeinschaft ist die Kooperation aller Einzelpersonen am besten. Da die Einzelperson jedoch Teil der Gemeinschaft ist, wäre es auch für sie kooperatives Verhalten letztlich von Vorteil. In diesem Dilemma spielt Vertrauen in die übrigen Akteure eine wichtige Rolle. In der ökonomischen Psychologie finden in diesem Kontext Steuerverhalten und Steuerhinterziehung Beachtung. Während aus ökonomischer Sicht vor allem die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung eines Steuerdelikts und die Höhe der Steuerstrafe relevant erscheinen, wird von seiten der Psychologie die "Steuermoral" als Einstellung der Steuerpflichtigen zu Steuern, Steuerdelikten, Steuerstrafen und der Person des Steuerhinterziehers seit den 60er Jahren unter verschiedenen theoretischen Blickwinkeln erforscht. Gerechtigkeitstheorien und Austauschtheorien betonen die Bedeutung wahrgenommener Gerechtigkeit für das Steuerverhalten. Reaktanztheorien fokussieren auf die wahrgenommene Einschränkung der Handlungsfreiheit durch Steuerauflagen, und sehen Steuerhinterziehung als Versuch, Freiräume zurückzugewinnen. Neuere Ansätze integrieren situative und persönliche Anreize und Hindernisse in ein gemeinsames Modell. Die Prospect-Theorie nimmt an, daß die Bereitschaft zur Steuerhinterziehung auch von der subjektiven Interpretation der Steuersituation abhängt. Steuernachzahlungen legen eine Verlustinterpretation nahe – damit dürfte das Risiko der Steuerhinterziehung eher in Kauf genommen werden, während bei Steuerrückzahlungen kein Risiko eingegangen wird.
Literatur
Fehr, E., Kirchler, E., Weichbold, A. & Gächter, S. (1998). When social norms overpower competition: Gift exchange in experimental labor markets. Journal of Labor Economics, 16, 324-351.
Kirchler, E. (1999). Wirtschaftspsychologie (2. Auflage). Göttingen: Hogrefe.
Lea, S. E. G., Tarpy, R. M. & Webley, P. (1987). The Individual in the Economy. A Survey of Economic Psychology. Cambridge: Cambridge University Press.
Van Raaij, W. F., Van Veldhoven, G. M. & Wärneryd, K.-E. (Eds.). (1988). Handbook of Economic Psychology. Dordrecht: Kluwer.
Wiswede, G. (1995). Einführung in die Wirtschaftspsychologie (2. Auflage). München: UTB.
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