Lexikon der Psychologie: Arbeits- und Organisationspsychologie
Essay
Arbeits- und Organisationspsychologie
André Büssing
Entwicklung, Grundbegriffe, Standorte
Die Anfänge der Arbeits- und Organisationspsychologie gehen auf Hugo Münsterberg zurück. In seinem 1912 veröffentlichten Lehrbuch "Psychologie und Wirtschaftsleben" werden praktische Problemstellungen der Psychologie wie zum Beispiel Lernen und Übung in der Industrie, Selektion geeigneter Personen, Beratung und Berufswahl behandelt. Die Teildisziplin, die diese Themen in Deutschland heute abdeckt, wird als Arbeits- und Organisations(A&O)-Psychologie bezeichnet. Diese Fachgebietsbezeichnung hat sich erst in den 1980er Jahren durchgesetzt (früher und z.T. auch heute noch gebräuchliche Bezeichnungen: Arbeits- und Betriebspsychologie; Arbeits-, Betriebs- und Organsisationspsychologie – ABO-Psychologie). Die Teildisziplin ist seither als eines der drei Anwendungsfächer im Hauptstudium der Psychologie der Universitäten und als Fachgruppe bzw. Sektion in den beiden großen psychologischen Gesellschaften, der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und dem Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) etabliert. Ein europäischer Berufsdachverband der A&O-Psychologen hat sich 1991 in der European Association of Work and Organizational Psychology (EAWOP) zusammengefunden, und die American Psychological Association (APA) hat mit der Sektion 14 "Society of Industrial and Organizational Psychology" (SIOP) eine große und einflußreiche Gemeinschaft von A&O-Psychologen zusammengeführt.
Die Bezeichnung A&O-Psychologie verweist auf ihren konstitutiven Gegenstand: menschliche Arbeit in Organisationen. Es geht um die Beschreibung, Analyse, Bewertung, Erklärung, Vorhersage und Gestaltung menschlicher Arbeit in Organisationen. Diesen Gegenstand teilt sie sich mit anderen Disziplinen, die allgemein als Arbeitswissenschaften bezeichnet werden (z.B. Arbeitsmedizin, Arbeitsrecht, Arbeitspolitik, Arbeits- und Berufspädagogik, Betriebswirtschaftslehre, Ergonomie, Industriesoziologie) und die den Gegenstand arbeitsteilig auf unterschiedlichen Ebenen, mit unterschiedlichen Theorien, Konzepten und Methoden behandeln. Die Perspektive der A&O-Psychologie liegt in der Untersuchung und Veränderung menschlichen Verhaltens, Handelns, Denkens und Fühlens sowie der Entwicklung von Menschen durch Rekurs auf psychologische Begriffe, Theorien und Methoden (Greif & Bamberg, 1993).
Worin liegen nun die Unterschiede zwischen der Arbeitspsychologie und der Organisationspsychologie bzw. gibt es sie überhaupt, und welche Arbeitsteilung besteht mit anderen Teildisziplinen der Psychologie? Hierüber fand unter A&O-Psychologen vor einigen Jahren eine Art Standortbestimmung statt. Beiden, Arbeits- und Organisationspsychologie, geht es um menschliche Arbeit in Organisationen; insofern gibt es keine grundsätzliche Aufteilung des Faches sondern Akzentsetzungen. Das Anliegen der Arbeitspsychologie ist die Erforschung menschlicher Arbeitstätigkeit, ihre zentralen Themen sind die Arbeitsteilung zwischen "Kopf und Hand", zwischen "oben und unten", zwischen "stark und schwach", zwischen "Mensch und Maschine", zwischen "Individuum und Gruppe", zwischen "Gruppe und Organisation" (Udris & Grote, 1991); sie deckt damit weite Teile der Organisationspsychologie ab. Die Organisationspsychologie befaßt sich im weiteren Sinne mit dem Erleben und Verhalten von Individuen und Gruppen in Organisationen (von Rosenstiel, 1992) oder beliebigen organisationalen Kontexten; sie umfaßt damit letztlich große Teile der Arbeitspsychologie und der angewandten Sozialpsychologie. Beide – Arbeits- und Organisationspsychologie – bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Grundlagenforschung vor allem in der Allgemeinen, Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Sozialpsychologie und der Anwendung. A&O-Psychologie ist jedoch nicht bloßes Anwendungsfach, das sich "fremder" Theorien und Methoden bedient, vielmehr betreibt sie eigene Forschung zu ihren Grundlagen (Hacker, 1998) und übt nachhaltige Impulse auf die erwähnten Grundlagenfächer der Psychologie sowie auf andere arbeitswissenschaftliche Fächer aus bzw. steht in enger Wechselwirkung mit diesen.
Aufgabenfelder
Die Aufgabenfelder der A&O-Psychologie sind weit gesteckt. Die Themen können in drei Gebiete mit wechselseitigen Bezügen gruppiert werden: 1) Analyse und Bewertung von Arbeit und Organisation, 2) Umsetzung in Gestaltung, Intervention und Entwicklung, 3) Wirkungen und Folgen von Arbeit. Quer zu diesen Aufgaben liegen Aktivitäten der A&O-Psychologie auf den Gebieten von Theorie- und Methodenentwicklung im Labor und im Feld (z.B. Hacker, 1998; Schuler, 1995; Ulich, 1998).
1) Analyse und Bewertung von Arbeit und Organisation. Hier sind die Aufgabenfelder Analyse und Bewertung von Personen, von Arbeitstätigkeiten und Organisationen angesprochen. Im Rahmen der Diagnostik von Personen in bezug auf berufliche Eignung (Berufseignungsdiagnostik), Leistung und Potentialfeststellung bringt die A&O-Psychologie zahlreiche Verfahren aus der Psychodiagnostik (Diagnostik) ebenso wie originär von der Teildisziplin selbst entwickelte Verfahren zum Einsatz. Eines der einschlägigen ist die Assessment-Center Methode, die heute weit verbreitet ist und als vergleichsweise reliables und valides multimodales Verfahren sowohl zur Personalselektion und zum Personaleinsatz als auch zur Beurteilung von Potentialen mit Blick auf Personalentwicklung Anwendung findet. Die Analyse und Bewertung von Arbeitstätigkeiten richtet sich auf Arbeitsaufgaben und ihre Anforderungen und Belastungen, das heißt auf objektivierbare Bedingungen und nicht auf personenbezogene Eigenheiten bei der Verrichtung von Arbeitstätigkeiten. Dazu wurden eine Reihe von Verfahren entwickelt, die entweder als Fremdbeobachtungsinstrumente von (betrieblichen) Experten an Arbeitsplätzen eingesetzt oder als Selbstbeobachtungsinstrumente den Arbeitnehmern zur Beantwortung überlassen werden. Die Verfahren richten sich auf die Arbeitsaufgaben und deren Ausführungsbedingungen; sie sind in der Regel auf bestimmte Branchen (z.B. Industrie, Büro, Krankenhaus), auf spezifische Funktionen (z.B. körperliche, geistige Arbeit) und entweder auf die psychische Regulation der Arbeitstätigkeit (Anforderungen) oder auf die Arbeitsbedingungen (Behinderungen, Belastungen) ausgerichtet. Die Analyse und Bewertung von Arbeitstätigkeiten wird als notwendige Voraussetzung und erster Schritt in Richtung auf Gestaltung und Intervention begriffen, die sich wiederum auf unterschiedliche praktische Ziele wie Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe, Arbeitsqualität, Gesundheit, Sicherheit usw. richten. Die Verfahren sollen daher neben Validität und Reliabilität auch praktische Relevanz besitzen. Verfahren zur Analyse und Bewertung von Organisationen beziehen sich ebenfalls auf Bedingungen und nicht auf Personen, sie lassen sich darüber hinaus ähnlich wie die Verfahren zur Analyse von Arbeitstätigkeiten charakterisieren. Unterschiedlich sind zum Teil ihre Gegenstände und Datenquellen. So geht es um die Analyse und Bewertung von Interaktionen in Arbeitsgruppen, von Kommunikation, von Führung, von Klima und Kultur, von Ablauforganisation sowie von Strukturen und Regeln (z.B. Spezialisierung, Koordination, Delegation) oder von Prozessen verschiedener Art (z.B. Verhandlung, Mediation); neben den zuvor erwähnten Fremd- und Selbstbeobachtungsverfahren kommt etwa die Analyse von Dokumenten und Statistiken in Betracht.
2) Umsetzung in Gestaltung, Intervention und Entwicklung. Mit der Arbeitsgestaltung können unterschiedliche Strategien verbunden sein: die Korrektur von Mängeln (z.B. ergonomische Bestuhlung oder Hebehilfen bei Rückenschmerzen), die Prävention von Schädigungen und Beeinträchtigungen (z.B. Geräuschvermeidung bei Maschinen, Tätigkeitswechsel zur Vermeidung einseitiger Belastungen) und die prospektive Schaffung von Möglichkeiten der Gesundheitsförderung und Persönlichkeitsförderung (z.B. Anforderungsvielfalt, autonom adaptierbare Arbeitsabläufe und -technologien). Neben den Bedingungen von Arbeit (z.B. räumliche, physikalische, zeitliche) ist die Arbeitsaufgabe der wichtigste Ansatzpunkt zur Gestaltung, da sie den Schnittpunkt zwischen Organisation und Individuum bildet (Hacker, 1998) und die organisationalen Rahmenbedingungen auf das Denken, Erleben und Handeln von Personen vermittelt. Wichtige Merkmale bei der Aufgabengestaltung sind Ganzheitlichkeit, Anforderungsvielfalt, Möglichkeiten zur sozialen Interaktion, Autonomie sowie Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten; diese Merkmale charakterisieren sogenannte vollständige Arbeitstätigkeiten, die ihrerseits förderlich für Wohlbefinden, Gesundheit und Kompetenzen sind. Zur Aufgabengestaltung stehen der A&O-Psychologie je nach technisch-organisatorischen Bedingungen, sozialen Bedürfnissen, Umweltdynamik usw. unterschiedliche Konzepte zur Verfügung, die von traditionellen Einzelarbeitsplätzen, über Teamarbeit, teilautonome Gruppen bis hin zu sich vollständig selbstregulierenden Arbeitseinheiten reichen. Bei Intervention und Entwicklung geht es primär um Organisationsentwicklung und Personalentwicklung, wobei die Grenzen zur Arbeitsgestaltung fließend sind. Grob unterscheiden lassen sich mit der Organisationsentwicklung ein personaler Ansatz (z.B. gruppendynamische Trainings), ein strukturaler Ansatz (alle Formen der Arbeits-, Organisations- und soziotechnischen Systemgestaltung), ein Prozeßansatz (z.B. Prozeßberatung) und der Ansatz der Aktionsforschung mit einem sich wiederholenden Wechsel von Aktion, Datensammlung, Evaluation und Ergebnis-Feedback (Rückmeldung) an die Betroffenen. Die Personalentwicklung setzt vorwiegend bei einzelnen Mitgliedern der Organisation an, ist jedoch eng verbunden mit Organisationsentwicklungs-Maßnahmen, also mit Interventionen auf der Gruppen- und Organisationsebene, denn diese ziehen fast immer Personalentwicklungs-Maßnahmen nach sich (z.B. Trainings zur fachlichen und sozialen Kompetenz im Zuge der Einführung teilautonomer Arbeitsgruppen). Personalentwicklung beinhaltet alle person-, stellen- und arbeitsplatzbezogenen Maßnahmen zur Ausbildung und zur Erhaltung von beruflicher Qualifikation. Sowohl für die Methoden der Analyse und Bewertung als auch für die Arbeitsgestaltung, Intervention und Entwicklung sind autonomieorientierte und auf Partizipation der Betroffenen ausgerichtete Ansätze von solchen zu unterscheiden, die vorrangig auf Technikeinsatz zugeschnitten sind und allein auf Experten bauen. In vielen Untersuchungen hat sich gezeigt, daß das Motivieren der Betroffenen, sich an der Analyse, Bewertung und Gestaltung bzw. Entwicklung neuer Arbeitsformen zu beteiligen und die damit verbundenen Angebote für Kompetenzerwerb und Qualifizierung anzunehmen, auf die jeweiligen Maßnahmen stimulierend und auf den Erfolg günstig ausgewirkt haben.
3) Wirkungen und Folgen von Arbeit. Schließlich befaßt sich die A&O-Psychologie mit Wirkungen und Folgen von Arbeit sowie mit Merkmalen, die diese mitbedingen oder vermitteln. Unter den Wirkungen finden sich so unterschiedliche Aspekte wie Arbeitszufriedenheit/-motivation, Arbeitsorientierung, Commitment, Entfremdung, Leistung, Monotonie, Ermüdung, Sättigung, Beanspruchung und Streß, Burnout, Wohlbefinden, Erholung usw., unter den Folgen werden Krankheiten, Fehlzeiten und Fluktuation ebenso gefunden wie beispielsweise intellektuelle Leistungsfähigkeit und soziale Kompetenz. Die Theorien und Konzepte zu den Wirkungen und Folgen von Arbeit sind zumeist eng mit anderen Teildisziplinen der Psychologie verknüpft, und zur Erfassung werden so unterschiedliche Methoden wie Fragebogen, Beobachtungen oder psychophysiologische Messungen (Psychophysiologie) erfolgreich herangezogen. Eine wesentliche Aufgabenstellung der A&O-Psychologie ist es, durch Analyse, Gestaltung und Intervention positiv auf die Wirkungen und Folgen von Arbeit im Sinne einer Verbesserung der Qualität des Arbeitslebens einzuwirken.
Perspektiven
Die A&O-Psychologie hat sich bislang vornehmlich mit produktionsorientierter Arbeit und mit Tätigkeiten im primären Dienstleistungsbereich von Büro, Handel, Transport, Banken und Versicherungen befaßt. Die darauf zugeschnittenen Konzepte und Methoden sind auf Sektoren im sekundären Dienstleistungsbereich nur bedingt übertragbar, diese spielen aber schon heute und mehr noch in der Zukunft eine tragende Rolle. Zu nennen sind hier die personenbezogenen und insbesondere die Humandienstleistungen (z.B. in Pflege, Gesundheit, Betreuung, Beratung, Lehre) oder die Dienstleistungen in den technisch gestützten Informations- und Kommunikationsberufen. Diese Dienstleistungen bieten neue Herausforderungen, denn es spielt das "uno-actu-Prinzip" (gleichzeitige Anwesenheit von Produzent und Konsument, face-to-face-Interaktion bei der Erbringung der Dienstleistung) für viele dieser Dienstleistungen eine zentrale Rolle. Das heißt, Formen von emotionaler bzw. allgemeiner Interaktionsarbeit sind zu analysieren und zu gestalten. Zudem werden vor allem global tätige Unternehmen immer grenzenloser, virtuelle Unternehmen treten via Internet auf den Markt und neue dezentrale Arbeitsformen wie Telearbeit, Call-Center entwickeln sich rasant. Es stellt sich die Frage, was bei dieser Entwicklung für die A&O-Psychologie von dem bleibt, was traditionell als Gegenstand von Arbeitsanalyse und -gestaltung, Organisations- und Personalentwicklung bekannt ist, und was wird zukünftig neu zu entwickeln sein?
Literatur
Greif, S. & Bamberg, E. (Hrsg.). (1993). Die Arbeits- und Organisationspsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Hacker, W. (1998). Allgemeine Arbeitspsychologie. Bern: Huber.
Rosenstiel, L. von (1992). Grundlagen der Organisationspsychologie. (3. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
Schuler, H. (Hrsg.). (1995). Lehrbuch Organisationspsychologie. (2. Aufl.). Bern: Huber.
Udris, I. & Grote, G. (Hrsg.). (1991). Psychologie und Arbeit. Arbeitspsychologie im Dialog. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Ulich, E. (1998). Arbeitspsychologie. (4. Aufl.). Stuttgart: Schaeffer-Poeschel.
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