Lexikon der Psychologie: Aggression
Essay
Aggression
Herbert Selg
Geschichte
Seit Menschen ihr Leben in Worten und Bildern festhalten, gehören Aggressionen zu den Inhalten der Darstellungen: Auf einer etwa 5000 Jahre alten Schminkpalette des ägyptischen Königs Narmer wird gezeigt, wie er mit einer Keule auf einen Menschen einschlägt; und die Heilige Schrift des Abendlandes, die Bibel, schildert Gewaltakte vor allem im Alten Testament gehäuft und oft wenig reflektiert. Schon in der ersten Familie gab es einen Mord (Kain und Abel). Zum Thema der Psychologie wurde die Aggression vor etwa 100 Jahren. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Aggressionsforschung 1939 mit dem Buch "Frustration and Aggression" von Dollard, Doob, Miller, Mowrer und Sears.
Begriffe
Zentrale Begriffe in diesem Feld sind "Aggression", "Aggressivität" und Gewalt. Bei der Suche nach brauchbaren Definitionen erscheint es zweckmäßig, sich auf jene Autoren zu stützen, die als erste entsprechende Überlegungen angestellt haben und denen es gelungen ist, die Aggressionsforschung auf ein hohes Niveau zu heben: Dollard et al. (1939) definierten Aggression "als eine Handlung, deren Zielreaktion die Verletzung eines Organismus (oder Organismus-Ersatzes) ist". Zufällige Verletzungen scheiden aus, da sie nicht als Zielreaktionen gelten; Phantasien können hingegen Aggressionen sein. Diese Umschreibung läßt sich weiter ausdifferenzieren: Man kann ein Verhalten als Aggression einstufen, wenn ein "gegen einen Organismus oder ein Organismussurrogat gerichtetes Austeilen schädigender Reize" erkennbar ist. ("Schädigen" meint beschädigen, verletzen, zerstören und vernichten, Schmerzen zufügen, ärgern, stören, beleidigen etc.). Eine Aggression kann offen (körperlich, verbal) oder verdeckt (phantasiert), sie kann positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (mißbilligt) sein (Selg et al., 1997).
Wichtig ist: 1) "Aggression" meint ein Verhalten, kein Motiv und keinen aggressionsaffinen Affekt (wie etwa Ärger, Wut, Haß). 2) Die vom Forscher interpretierte "Gerichtetheit" soll verhindern, daß zufälliges Schädigen als Aggression gilt. "Absicht" soll nicht als Kriterium gelten, weil sonst z.B. Tiere, kleine Kinder und Absichten leugnende Straftäter aus der Aggressionsforschung ausgeschlossen werden müßten. 3) Vandalismus und Umweltverschmutzung können zu den Aggressionen gerechnet werden, wenn man "Organismus" (und v.a. "Organismussurrogat") nicht zu eng, sondern z.B. auch Gruppen oder Institutionen darunter faßt. Unter "Aggressivität" kann man die relativ überdauernde Bereitschaft eines Menschen (oder Tiers) zu aggressivem Verhalten verstehen.
Gewalt ist ein inflationär gebrauchter modischer Begriff für eine Teilmenge der Aggression. Meist werden physische Aggressionen gemeint, und zwar solche, die mit relativer Macht bzw. Kraft einhergehen. Man muß aber auch psychische Aggressionen bedenken (Drohungen, verbale Aggressionen), die mit relativer Macht bzw. Kraft gezeigt werden.
Formen der Aggression
Es gibt nicht "die" Aggression oder "die" Aggressivität. Man kann und muß verschiedene Formen unterscheiden. Nach äußerlich-formaler Einteilung gibt es offene und verdeckte Aggressionen, direkte und indirekte Aggressionen (z.B. üble Nachrede), Einzel- und Gruppenaggressionen (bis hin zum Krieg), Selbst- und Fremdaggressionen. Inhaltlich-motivational kann man trennen: positive und negative Aggressionen; expressive (affektbegleitete), feindselige (die Schaden und Schmerz des Opfers will) und instrumentelle Aggressionen (das sind solche Aggressionen, die ein bestimmtes Ziel, z.B. Geldgewinn, anstreben; eine Schädigung eines Opfers wird primär nicht angestrebt, aber um des Erfolges willen in Kauf genommen). Von ernster Aggression ist v.a. bei Kindern die spielerische Aggression zu trennen.
Aggressionstheorien
Seit rund 100 Jahren gibt es psychologische Aggressionstheorien. Es haben sich zwei Gruppen gebildet: Instinkt/Triebtheorien einerseits, lernpsychologische Ansätze andererseits. Zwischen beiden steht die Frustrations-Aggressions-Theorie.
Instinkt-/Triebtheorien. Sie gehen davon aus, daß sich stets eine spezifische Aggressionsenergie neu bildet und in größerer Menge aufgestaut werden kann – ohne die Art und den Ort dieses Staus zu erörtern. Die Energie muß irgendwann verbraucht werden; gefährlich wird es, wenn viel Energie in eine einzige Handlung fließt. Bei Burk (1897) treffen wir erstmals auf die Annahme eines Kampfinstinkts. 1908 postulierte A. Adler, damals noch zum Kreis um S. Freud gehörend, einen Aggressionstrieb. 1911 folgte S. Spielrein, Schülerin von C.G. Jung und S. Freud, mit einem Destruktionstrieb. Freud hielt davon zunächst wenig. 1920 legte er jedoch ähnliche Ideen in seiner letzten Trieblehre vor, in der sich zwei große Triebsysteme gegenüberstehen, nämlich Eros (Lebenstrieb) und Thanatos (Todestrieb). Das Ziel des Todestriebs bestehe darin, das Lebendige zum Tode zu führen; der Gegenspieler Eros verhindere einen raschen Erfolg, denn in unserem Handeln "legieren" sich die Triebe. So werde die Energie des Todestriebs nach außen gewendet; es komme zu Fremd- statt zu tödlichen Selbstaggressionen. Freud hat hier eindrucksvoll spekuliert; allerdings konnten ihm selbst viele Psychoanalytiker dabei nicht folgen. Eine Wiederbelebung erfuhr der triebtheoretische Ansatz 1963 durch K. Lorenz. Er beschränkte seine Aussagen nicht auf die von ihm systematisch beobachteten Fische und Vögel, sondern generalisierte mit Hilfe von Anekdoten auf den Menschen. Die Popularität, die dieser Ansatz erreichte, liegt wohl darin begründet, daß er einfache Erklärungen anbot und aggressiven Menschen eine Entschuldigung lieferte: Jeder Trieb ist lebensnotwendig und muß befriedigt werden.
Frustrations-Aggressions-Theorie. Dollard et al. gingen 1939 von zwei Axiomen aus: "Aggression ist immer eine Folge von Frustration" und "Frustration führt immer zu einer Form von Aggression". Diese regten zu kritischen Überprüfungen an, die bald starke Abstriche an der ursprünglichen Theorie nötig machten. Heute werden Frustrationen nur noch als eine unter vielen Bedingungen betrachtet (Frustrations-Aggressions-Theorie).
Lernpsychologische Ansätze. Es gibt keine spezifische lernpsychologische Aggressionstheorie; es gibt lediglich Lerntheorien, die u.a. auch die Entstehung von Aggressionen erklären können. Die Grundannahme lautet: Aggressionen werden – wie die meisten Verhaltensklassen (z.B. Schreiben, Kochen, Autofahren) – gelernt. Dabei sind drei Lernarten relevant: 1) das klassische Konditionieren (Lernen, Reiz-Reaktions-Lernen) , 2) das Lernen am Erfolg (Lernen, Instrumentelles Lernen) und 3) das Lernen am Modell (Lernen, Modell-Lernen). Mit Hilfe des klassischen Konditionierens kann man v.a. affektive Reaktionen (Ärger/Wut) und die Bildung negativer Einstellungen erklären. Wenn uns z.B. jemand heftig geärgert hat, genügt schon die Nennung seines Namens, um wieder einen Affekt auszulösen. Wichtiger ist jedoch das Lernen am Erfolg: Verhalten, das mehrmals zum Erfolg führt, wird beibehalten und bei passender Gelegenheit wiederholt. Besondere Bedeutung kommt dem Lernen am Modell zu: Durch das Beobachten von Modellen, die sich aggressiv verhalten, können v.a. Kinder genau dieses Verhalten lernen. Manche Eltern, manche Erzieher sind aggressiv, und alle Massenmedien bieten eine Vielfalt aggressiver Modelle an. Das Risiko ist groß, daß noch ungefestigte Menschen die vorgeführten Aggressionen als Mittel zu Problemlösungen "erkennen" und bei Bedarf einsetzen (bei gefestigten, reflexiven Persönlichkeiten können aggressive Modelle eher einen Bumerangeffekt bewirken). Es geht beim Lernen am Modell jedoch insgesamt weniger um Imitationen als darum, daß erfolgreiche aggressive Modelle allmählich Einstellungen verändern, Gefühle gegen Gewalt abstumpfen lassen, bei anderen aber auch Ängste vor Gewalt erhöhen. Entgegen den Annahmen einer sog. Katharsishypothese befreit uns das Beobachten von Gewalt nicht von eigenen Aggressionsneigungen. Fatal wird Konsum von Mediengewalt für solche Kinder, die in ihrer Familie auch reale Gewalt erfahren. Diese "doppelte Dosis" von Gewalterleben steigert die Wahrscheinlichkeit abweichender Entwicklungen bis hin zur Kriminalität. Wer lernpsychologische Standpunkte vertritt, wird weder relevante angeborene Faktoren (z.B. die größere Kraft beim männlichen Geschlecht, die physische Aggressionen begünstigt) noch gesellschaftliche Einflüsse vernachlässigen. Psychologische Theorien allein können nicht alle Aggressionen hinreichend erklären. Sie können nur einen bescheidenen Beitrag leisten, wenn es z.B. gilt, Krieg und Frieden (Friedensforschung) zu analysieren.
Kontrolle und Modifikation
Aggressionen bereiten Sorgen; immer wieder wird ein Anstieg von Gewalt beklagt, und man möchte gegensteuern. Je nach politischem und psychologischem Standpunkt fallen entsprechende Empfehlungen sehr unterschiedlich aus. Wer Mängel in gesellschaftlichen Strukturen als Nährboden großer Aggressionen ansieht, wird gesellschaftliche Veränderungen fordern. Wer mehr die individuelle Verantwortung betont, neigt z.B. dazu, das Heil von (stärkeren) Strafen (Bestrafung, Lernen) zu erwarten. Diese politischen Gedanken werden von psychologischen durchdrungen. Nach einer triebtheoretischen Position (Triebtheorie) muß die ständig fließende Aggressionsenergie kanalisiert werden; der Versuch, sie zu unterdrücken, erhöht das Risiko eines unkontrollierten Ausbruchs. Wer auf dem Boden der Frustrations-Aggressions-Theorie steht, wird Reduzierungen großer Frustrationen verlangen; auch Verschiebungen von Aggressionen erscheinen sinnvoll. Als richtig gilt es, hohe Aggressionsenergien durch mehrere kleine Aggressionen abzubauen. Aus lernpsychologischer Sicht ist es möglich, den Aufbau nennenswerter Aggressivitäten zu vermeiden bzw. übermäßig entwickelte Aggressivitäten zu reduzieren. Bei Kindern bewährt sich die differentielle Verstärkung: Erwünschtes Verhalten wird bekräftigt, unerwünschtes Verhalten bleibt möglichst unbeachtet. Strafen dürfen nur in bestimmten Formen und klar beschriebenen Kontexten eingesetzt werden.
Die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura, die v.a. das Lernen am Modell betont, führt zu weiteren Empfehlungen: Erfolgreiche unerwünschte Aggressionen dürfen nicht unreflektiert demonstriert werden. Medienbilder sind nicht nur Abbilder, sie sind auch Vorbilder (dies gilt natürlich auch für alternative Inhalte, z.B. für die Demonstration prosozialer Verhaltensweisen: Hilfeverhalten). Wichtige Prinzipien sind z.T. uralt, ohne aber hinreichend berücksichtigt zu werden. Beispiele: Wehret den Anfängen; Aggressionen dürfen sich nicht lohnen; man muß aggressiven Menschen alternative Wege zur Erreichung ihrer Ziele aufzeigen. Über mögliche Kontrollen im erzieherischen Alltag (Erziehungspsychologie) informiert u.a. Nolting (seit 1978); therapeutische Verfahren schildern z.B. Mees (in Selg et al. 1997) und Petermann und Petermann (seit 1978).
Gegenwärtige Trends
Immer wieder stellen sich in der Aggressionsforschung neue Probleme oder alte Probleme mit plötzlich gesteigerter Dringlichkeit. Zum Beispiel thematisierte die "Gewaltkommission" (Schwind & Baumann 1990) noch nicht die sexuelle Gewalt gegen Kinder ( sexueller Mißbrauch). In den letzten Jahren haben sich die Themen der Aggressionsforschung stark ausdifferenziert; sie begegnen uns jetzt zumeist unter dem Etikett "Gewalt". Man denke an die sich überschneidenden Bereiche "Gewalt in den Medien" ( Mediengewalt), "Gewalt in der Familie" (gegen Kinder, Partner, alte Menschen), "Kinder- und Jugendkriminalität", "Gewalt in der Schule", "Gewalt am Arbeitsplatz" (Mobbing), sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder einschließlich (Kinder-) Pornographie, "Gewalt im Straßenverkehr", "Gewalt im Sport" (Sportpsychologie), "Gewalt gegen Ausländer", "politischer Extremismus", "Terrorismus", "Krieg". Zu vielen Themen wird vielerorts in der Psychologie und – was besonders nötig ist – interdisziplinär geforscht. Auch ist in einigen Arbeitsfeldern eine leichte Verschiebung der Akzente erkennbar: Präventive Maßnahmen (Prävention) haben gegenüber therapeutischen Überlegungen an Bedeutung gewonnen. Viel bleibt noch zu tun – auch in der Umsetzung der bereits vorliegenden Ergebnisse und Empfehlungen.
Literatur
Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta.
Dollard, J., Doob, L.W., Miller, N.E., Mowrer, O.H. & Sears, R.R. (1939). Frustration and Aggression. New Haven: Yale University-Press.
Freud, S. (1920). Jenseits des Lustprinzips. Gesammelte Werke, Bd. XIII. London: Imago Press.
Lorenz, K. (1963). Das sogenannte Böse. Wien: Borotha-Schoeler.
Nolting, H.P. (1978). Lernfall Aggression. Reinbek: Rowohlt.
Petermann, F. & Petermann,U. (1978). Training mit aggressiven Kindern. München: Urban & Schwarzenberg.
Schwind, H.-D. & Baumann, J. (Hrsg.).(1990). Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Berlin: Duncker & Humblot.
Selg, H., Mees, U. & Berg, D. (1997). Psychologie der Aggressivität (2., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
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