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Lexikon der Psychologie: Entwicklungspsychologie

Essay

Entwicklungspsychologie

Arne Stiksrud und Edgar Schmitz

Geschichte
Die Entwicklungspsychologie befaßt sich mit der Beschreibung und Erklärung des sich im Lebenslauf verändernden Verhaltens und Erlebens von Individuen. Als Geburtsjahr dieser Disziplin nennt Karl Bühler in seinem "Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes" (1925) das Erscheinen des Buches "Die Seele des Kindes" von W. Preyer 1882. Dieser habe das neue Gebiet als Ganzes gesehen und mit naturwissenschaftlicher Sorgfalt ein Archiv von Einzelbeobachtungen erstellt – geschult mit Methoden einer deskriptiven Physiologie. Der Anfang einer wissenschaftlichen, d.h. über ihre Methoden reflektierenden, Entwicklungspsychologie, wird in der Evolutionstheorie, die das Suchfeld regelhafter Veränderungen in der Zeit zwischen Geburt und reifem Organismus absteckt, gesehen. Darwin (1877), nach ihm Preyer, Shinn, Stern, Scupin und Piaget, bedienten sich der Tagebuchmethode zur Registrierung kindlicher Entwicklungsphänomene. War es anfänglich die Evolutionstheorie, die das Sammeln und Ordnen leitete, wurden es später Funktionsbereiche wie Sprache, Kognition, Lernen usw., die das methodische Erfassen von Verhaltens- und Erlebensäußerungen führten. Leitvorstellung biologistischer Natur war bis über die Jahrhundertwende die These von G. S. Hall, wonach die Kindheits- und frühe Jugendentwicklung eine Rekapitulation der Menschheitsgeschichte darstelle, eine Analogie zum sog. biogenetischen Grundgesetz von Haeckel, wonach die Keimesentwicklung die Phylogenese rekapituliere. Noch 1925 hat K. Bühler das erkenntnisleitende Interesse an der Entwicklung des Kindes so gefaßt: "In ihm spielt sich unserer eigenen Geistesgeschichte Wiederholung und Fortsetzung ab, an der wir uns selbst besser verstehen und künftige Geistesströmungen abzulesen versuchen". Ähnlich versuchte Piaget der Denkentwicklung des Kindes Aspekte der Genese von Erkenntnis abzugewinnen.

Definitionen
Eine umfassende Definition von Entwicklung, die alten und neueren Konzepten einen Rahmen bietet, lautet nach Schmidt: "Wir bezeichnen solche psychophysischen Veränderungsreihen als Entwicklung, deren Glieder existentiell auseinander hervorgehen (d.h. in einem natürlichen inneren Zusammenhang stehen), sich Orten in einem Zeit-Bezugssystem zuordnen lassen und deren Übergänge von einem Ausgangszustand in einen Endzustand mit Hilfe von Wertkriterien zu beschreiben sind". Thomae sieht Entwicklung als "Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufs zuzuordnen sind". Der Verweis auf den Lebenslauf als Zeit-Bezugssystem ist gegenüber der frühen Entwicklungspsychologie insofern neu, als er der Gleichsetzung von Kinderpsychologie bzw. Jugendpsychologie als Entwicklungspsychologie widerspricht und letztere zu einer die ganze mögliche Lebensspanne eines Individuums umfassenden Größe ausweitet. Die Definition von Kessen, wonach ein Phänomen entwicklungsbedingt ist, "wenn es in regel- oder gesetzmäßiger Weise mit dem Alter in Beziehung gesetzt werden kann", läßt sich in der Gleichung V = f (A) ausdrücken (V = Verhalten, f = Funktion, A = Alter). Ein operationales Konzept dieser deskriptiven Form liegt allen empirischen Studien zur Entwicklungspsychologie zugrunde. Trautner nennt das Alter eine "Trägervariable", Montada "Stellvertreter oder Indikator", um die rein deskriptive Funktion eines wissenschaftlichen Alterskonzepts im Gegensatz zur explanatorischen des Entwicklungskonzepts hervorzuheben (alle Zitate nach Trautner, 1992, bzw. Oerter & Montada, 1995).

Beobachtungsmethodenund Forschungspläne
1) Beobachtungsmethoden: Neben dem Tagebuchverfahren zählt Bühler (1925) besonders für die Erforschung von Entwicklungsphänomenen im Kleinkindalter folgende Beobachtungsmethoden auf:
- Leistunqsexperimente, mit denen bestimmt werden soll, ob eine Aufgabe gelöst werden kann und wo die Grenzen der entsprechenden Leistungsfähigkeit liegen;
- Auslösungsexperimente, beispielsweise um für Wahrnehmungen das Öffnen des Mundes und aktives Ausstoßen saurer und bitterer Flüssigkeiten zu registrieren;
- Eng damit zusammenhängend sind Ausdrucksexperimente dafür da, seelische Zustände mittels Bestimmung der Mimik und anderer Begleiterscheinungen festzuhalten;
- Selbstbeobachtungen kann man "mit Geduld und kritischer Vorsicht" auch bei Vorschulkindern einsetzen, wie es Binet bezüglich kindlicher Denkakte tat;
- Als letzte Methode nennt Bühler explizit die "psychologische Interpretation " d.h. die "Ausdeutung und Erklärung der sogenannten objektiven geistigen Gebilde", hier bezogen auf kindliche Sprachinhalte, auf Märchen und Zeichnungen.
Grundsätzlich kommen alle in der Psychologie üblichen Verfahren für die entwicklungspsychologische Forschung in Frage. Lohaus (1989) vergleicht an Datenerhebungsmethoden, die überwiegend bei Kindern zum Einsatz kommen: a) Interviews mit Spielcharakter, b) Interviews mit Einsatz von figuralen und non-figuralen Kommunikationsmedien, und c) die klinische Methode von Piaget (das am Einzelfall erhobene Interview). Alle drei Methoden sind prinzipiell auf den aktiven und passiven Wortschatz und auf die semantische, syntaktische und pragmatische Sprachfähigkeit und Sprachentwicklung angewiesen (Sprache), wozu auch bei allen Interviewten gleiches Aufgabenverständnis und entsprechende Kontrolle der sozialen Erwünschtheit der Befragungsinhalte und -methoden gehören.
Neben den üblichen Beobachtungs-, Kodierungs- und Auswertungstechniken, sind folgende Techniken für zeitgebundene Verhaltensregistrierung, und damit für entwicklungsprozessuale Registrierung relevant:
- Im Echt-Zeit-Protokoll (real-time protocol) werden z.B. bei Mutter-Kind-Interaktionen mit Beginn und Ende einzelner Verhaltensweisen entlang der physikalischen Zeitachse ikonografisch (z.B. Video) festgehalten.
- Neben der zeitgetreuen Abbildung kann Zeit-Raffer- oder Zeit-Lupen-Technik jenseits der Normalgeschwindigkeit Beobachtungssequenzen entsprechend der Fragestellungen und Hypothesen reduzieren oder dehnen.
- Mit der Zeit-Stichproben-Technik (time sample), z.B. alle 20 Min. wird während eines Intervalls von 3 Min. das Video- bzw. Filmgerät auf Aufnahme programmiert, um Häufigkeitsquoten des Verhaltens zu erfassen.
- Die Ereignis-Stichproben-Technik (event sample), zielt auf vorher festgelegte und evtl. provozierte Verhaltenssequenzen ab (z.B. wartet der Beobachter, bis ein Kind einem anderen ein Spielzeug wegnimmt).
2) Forschungspläne:
a) Die Längsschnitt-Strategie kommt dem Anliegen der Entwicklungspsychologie, der Beobachtung des Verhaltens und Erlebens im Verlauf der Ontogenese, am nächsten. Diese intraindividuellen Veränderungen verlangen die wiederholte Datenerfassung bei denselben Individuen zu mehreren Zeitpunkten im Verlauf des Lebensabschnitts, der den Rahmen der Untersuchung absteckt – z.B. die Übergänge vom aktiven Berufsleben in das Stadium der Ausgliederung aus dem Berufsleben als Thema der Gerontopsychologie. Dabei stellt sich nicht nur das forschungspraktische Problem der Identität der Individuen; die Konstrukt-Kontinuität, auf deren Verlauf eine Untersuchung theoretisch gründet, ist dabei das eine Problem; das andere ist die operationale Identität des Erhebungsverfahrens; so ist die Trennungsangst des Kleinkindes von seiner Mutter eine andere als die des Schulkindes in den ersten Tagen der Einschulung. Die von Flavell für kognitive Entwicklungsstrukturen genannten Abfolgemuster verdeutlichen die quantitativen und/oder qualitativen Sequenzprobleme: Addition liegt vor, wenn beispielsweise der aktive und passive Wortschatz kumulativ mittels schlichter Wachstumskurven abgebildet werden kann; bei einer Substitution findet Ersetzung eines Früheren durch Späteres statt, z.B. wenn das "Robben" als kleinkindliche Fortbewegung durch das reifere "Krabbeln" ersetzt wird (Trautner, 1992). Von Inklusion geht man dann aus, wenn das Frühere ins Spätere eingearbeitet bzw. integriert ist – z.B. wenn früher separiert erscheinende Greifhandlungen zu koordinierten Zielhandlungen werden; eine Mediation ist ein förderliches oder notwendiges Verbindungsglied zwischen einem früheren Stadium und einem späteren Entwicklungsschritt. Differenzierung und Integration stellen ähnliche quantitative bzw. qualitative Ablaufmuster vor, die für Kontinuität wie für Diskontinuität der Entwicklung im Allgemeinen, wie der Reifung, des Wachstums, des Lernens, der Prägung und der Sozialisation im Speziellen herangezogen werden können und die rein prozessuale Längsschnittperspektive modifizieren oder gar einschränken müssen (Längsschnitt-Strategie).
b) Die Querschnitt-Strategie setzt nach unterschiedlichen Altersangaben gruppierte Personen, die zu einem Zeitpunkt getestet wurden, entsprechend der Alters-Zeit-Achse zum direkten Vergleich nebeneinander und simuliert einen Quasi-Längsschnitt über die Altersdifferenzen zwischen den untersuchten Populationen hinweg. Dieses methodische Vorgehen ist meist von der Erhebungsökonomie vorgegeben. Es verlangt vergleichbare Altersstichproben, die sich möglichst nur in dem avisierten altersdiskriminativen Merkmal unterscheiden, dessen "Verlauf" von Interesse ist. Der querschnittliche Vergleich ist aber als alterskontrastierende Methode dann legitim, wenn es beispielsweise um die Darstellung von Vergleichen zwischen jugendlichem und elterlichem Zukunftsplanen geht, um Generationen-Unterschiede explizit demonstrieren zu können (Querschnitt-Strategie).
c) Sequenzpläne versuchen die Konfundierungsprobleme der Querschnitt- und der Längsschnittmethode zu verringern. Beim Querschnitt kommt es zur Konfundierung zwischen Alter und Kohorte, d.h. beobachtete Differenzen zwischen den Altersgruppen sind nicht nur auf die Altersunterschiede sondern möglicherweise auch auf die Zugehörigkeit zu bestimmten epochal beeinflußten Generationen ("Kohorten") zurückzuführen. Beim Längsschnitt kann ein festgestellter Altersunterschied, bspw. bei der Aggressivität zwischen 15 und 18 Jahren, nicht zwingend dem "Altern" der Testpersonen zugeschrieben werden, denn zwischen beiden Testzeitpunkten – z.B.1988 und 1991 – kann sich die öffentliche Meinung zur Aggressivität Jugendlicher gewandelt haben und entsprechend in den Einstellungsskalen wiederspiegeln. Auch die Retestwirkungen können die festgestellte Differenz zwischen beiden Meßzeitpunkten tangieren. Wenn Kohorteneffekte vernachlässigbar sind, bspw. keine Änderungen in der Beschulung 8- bis 12-Jähriger, dann lassen sich die Altersdifferenzen z.B. im Rechtschreiben als Entwicklungswirkungen beschreiben; bei den 12-Jährigen muß es sich allerdings um dieselben Schüler handeln, die schon vier Jahre vorher getestet worden waren.

Themen der Entwicklungspsychologie
Von der ganzheitlichen Betrachtung der Lebensspanne – sie führte zur Wiederentdeckung der Phasenmodelle von Erikson und Havighurst – blieb die Beschäftigung mit der Gerontopsychologie. Nach einer Reformulierung der Piaget-Ansätze in informationstechnologischer Sprache und der Zusammenfassung unterschiedlichster Strömungen unter tiefenpsychologischer oder kontextualistischer Entwicklungstradition kommt es zu neobiologischen Kontroversen des Anlage-Umwelt-Problems in Gestalt soziobiologischer Thesen. An ausgewählten Themenbereichen der Entwicklungspsychologie sind im Lehrbuch der Entwicklungspsychologie (Keller, 1998) die Sprachentwicklung, die Entwicklung des moralischen Urteils, die Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, die Entwicklung von Spiel- und Explorationsverhalten sowie die geschlechtliche Selektion und Individualentwicklung genannt. Die in diesem Werk behandelten Lebensabschnitte sind: Frühe Kindheit und Vorschulalter, Jugendalter, Erwachsenenalter und Alter. Was unter später Kindheit als das Schulkindalter abgehandelt wird, ist auch im Lehrbuch von Oerter und Montada (1995) nicht spezifiziert. Viele Kapitel des umfassendsten deutschsprachigen Lehrbuchs der Entwicklungspsychologie (Oerter & Montada, 1995) zur Angewandten Entwicklungspsychologie, bspw. Schulversagen, Geistige Behinderung, Kindesmißhandlung, Elternverlust, Politischer Extremismus, Pensionierung, ließen sich genau so gut in einem Lehrbuch zur Gesundheitspsychologie oder zur Heil- und Sonderpädagogik plazieren. In Erweiterung einer Aussage von Ewert ist Entwicklungspsychologie nicht nur zu einem Prüffeld für die Tragweite und Verallgemeinerungsfähigkeit psychologischer Aussagen geworden, sie hat auch in der Pädagogik, den angewandten Sozialwissenschaften (z.B. Kriminologie) und der Medizin (Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters sowie des Greisenalters) erkenntnis- und handlungsleitende Funktionen erworben.

Literatur
Bühler, K. (1925). Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes. Leipzig: Quelle & Meyer.
Keller, H. (Hrsg.).(1998). Lehrbuch Entwicklungspsychologie. Bern: Huber.
Lohaus, A. (1989). Datenerhebung in der Entwicklungspsychologie. Bern: Huber.
Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.). (1995). Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch (3. Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Trautner, H.M. (1992). Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Bd. 1: Grundlagen und Methoden. Göttingen: Hogrefe.

  • Die Autoren
Gerd Wenninger

Die konzeptionelle Entwicklung und rasche Umsetzung sowie die optimale Zusammenarbeit mit den Autoren sind das Ergebnis von 20 Jahren herausgeberischer Tätigkeit des Projektleiters. Gerd Wenninger ist Mitherausgeber des seit 1980 führenden Handwörterbuch der Psychologie, des Handbuch der Medienpsychologie, des Handbuch Arbeits-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie Herausgeber der deutschen Ausgabe des Handbuch der Psychotherapie. Er ist Privatdozent an der Technischen Universität München, mit Schwerpunkt bei Lehre und Forschung im Bereich Umwelt- und Sicherheitspsychologie. Darüber hinaus arbeitet er freiberuflich als Unternehmensberater und Moderationstrainer.

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