Lexikon der Psychologie: Gedächtnis
Essay
Gedächtnis
Elke van der Meer
Globale Charakteristik
Das Gedächtnis ist das komplexeste psychische Gebilde und Medium für alle psychischen Phänomene. Es ist Voraussetzung jeder Orientierungsleistung und steuert das Verhalten. Das Gedächtnis ist kein passiver Wissensspeicher, sondern in permanenter Veränderung und Selbstorganisation begriffen: Information aus der Umwelt und dem Organismus selbst wird in Abhängigkeit vom externen Kontext und der Befindlichkeit des Organismus (interner Kontext) aufgenommen, verarbeitet, gespeichert und kann zu einem späteren Zeitpunkt anforderungs- und bedürfnisabhängig erinnert, modifiziert oder zur Erzeugung neuer Information genutzt werden. Das Gedächtnis ist eine Leistung des Gehirns (Zentralnervensystem) und damit der experimentellen Forschung zugänglich. Es läßt sich als Struktur und als Prozeß kennzeichnen. Beide Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden. Gedächtnis als Struktur oder mentale Repräsentationumfaßt Wissen über Fakten, über kognitive Operationen und Prozesse sowie über Fertigkeiten. Derartige mentale Repräsentationen sind multidimensional und werden über Lernprozesse unterschiedlicher Spezifik aufgebaut. Gedächtnis als Prozeß thematisiert, welche Mechanismen dem Aufbau, der Stabilisierung und der Nutzung mentaler Repräsentationen zugrundeliegen (Informationsverarbeitung).
Herangehensweise
Die erste systematische Analyse des Gedächtnisses geht auf Aristoteles zurück (Assoziationsgesetze). Die ersten experimentellen Gedächtnisstudien stammen von Hermann Ebbinghaus (1885) und thematisieren das assoziative, verbale Lernen (Vergessenskurve, Ersparnismethode, Gedächtnismethoden). Während Ebbinghaus den Einfluß des Vorwissens durch Verwendung sinnfreien Lernmaterials minimieren wollte, hob Bartlett (1932) die entscheidende Rolle von Vorwissen (Schemata) und Inferenzen für Erinnerungsleistungen hervor. Diese Sichtweise dominiert in der modernen Gedächtnispsychologie. Als theoretische Rahmenvorstellung fungiert seit Beginn der siebziger Jahre das Informationsverarbeitungsparadigma. Untersuchungsziel ist die Entwicklung einer funktionsorientierten Architektur des Gedächtnisses. Dazu wird das Phänomen Gedächtnis in basale Prozesse – wie Encodierung, Speicherung, Abruf – oder in unterscheidbare Teilsysteme – z.B. Arbeits- und Langzeitgedächtnis – gegliedert.
Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen sind an diesen Untersuchungen beteiligt, wobei zunehmend mehrere Beschreibungsebenen ineinander greifen: Die Kognitive Psychologie leitet aus Verhaltensdaten Aussagen über Struktur- und Funktionsprinzipien des Gedächtnisses ab. Die Informatik entwickelt formale Modelle und Computersimulationen zur Beschreibung komplexer Wissensstrukturen und der über diesen Strukturen ablaufenden Prozesse. Die Neurowissenschaften (Neuropsychologie, Neuroanatomie, Neurobiologie, Neurophysiologie) analysieren die neuronale Basis von Lern- und Gedächtnisphänomenen. Angestrebt ist eine integrative Theoriebildung, die allerdings noch in fernerer Zukunft liegt. Es klafft z.B. eine Lücke zwischen formalen Lösungsansätzen der Informatik/Künstlichen Intelligenz und der beim Menschen real ablaufenden kognitiven Prozesse. Die Analyse zellulärer Mechanismen, die Gedächtnisspuren erzeugen, und die Aufklärung neurochemischer Prozesse der Erregungsentstehung und -weiterleitung sind bisher auf einfache Lebewesen beschränkt. Offen ist, ob die gefundenen Prinzipien auf Systeme höherer Komplexität übertragbar sind und welche zusätzlichen Funktionsprinzipien relevant werden (Zusammenarbeit neuronaler Netzwerke).
Die Ergebnisse der Gedächtnisforschung finden breite Anwendungsfelder: z.B. bei der Gestaltung und Optimierung intelligenter technischer Systeme, bei der Aufklärung von psychopathologischen Zustandsbildern (z.B. Amnesien) oder von Leistungen des Alltagsgedächtnisses bis hin zu altersabhängigen Trainingsmöglichkeiten des Gedächtnisses und der Beurteilung der Verläßlichkeit von Erinnerungen bzw. Augenzeugenberichten (false memories).
Ursprung des Gedächtnisbesitzes und Struktur des Gedächtnisses
Das Gedächtnis setzt sich zusammen aus dem Art- und dem Individualgedächtnis. Das Artgedächtnis umfaßt den Anteil vererbten Wissens (z.B. unbedingte Reflexe), das Individualgedächtnis den über individuelle Lernprozesse aufgebauten Wissensbesitz. Das Individualgedächtnis enthält Fakten und Fertigkeiten, die aus eigener Beobachtung und Erfahrung resultieren, sprachlich vermitteltes Wissen und Wissen, das durch kognitive Operationen erzeugt wird (kognitives Lernen und Denken). Basale Gedächtnisprozesse sind kognitive Operationen und Strategien, die die Encodierung (Einprägen), das Speichern (Behalten) und den Abruf (Erinnern, Wiedergabe) von Informationen beeinflussen (Informationsverarbeitung)
Gegenwärtig wird intensiv untersucht, welche Gedächtnisformen bzw. -arten unterscheidbar sind. Befunde stützen die Annahme, daß das Gedächtnis modular aufgebaut ist. Das historisch erste, differenziert ausgearbeitete Mehrspeichermodell des Gedächtnisses (modal model) geht auf Atkinson und Shiffrin (1968) zurück und basiert primär auf der Zeitdimension ( Abb. 1 ).
Es werden drei separate, permanent existierende Gedächtnissysteme unterschieden:
1) das Ultrakurzzeitgedächtnis (Sensory registers) für Informationen, die in den Rezeptorsystemen anliegen (modalitätsspezifische analoge Codierung; bewußtseinsunabhängig; große Speicherkapazität; kurze Haltedauer: z.B. 200-400 ms für visuelle und bis zu 4 s für akustische Information);
2) das Kurzzeitgedächtnis (STS) als bewußtseinsnaher Speicher (Kapazität ca. 7+/-2 chunks, die Informationsmenge pro chunk kann sehr groß sein und durch Übung weiter gesteigert werden; Behaltensdauer im Sekundenbereich; uni- (bevorzugt phonologische) und multimodale Codierung; Mustererkennung und selektive Aufmerksamkeit als notwendige Bestandteile der Codierungsprozesse; Wiederholung (rehearsal) und Konsolidierung der Information gelten als zentrale Funktion des Kurzzeitgedächtnisses; kontrollierte, elaborierte Verarbeitung und Zuweisung von Aufmerksamkeitsressourcen verlängern die Aufrechterhaltung der Aktivierung und befördern die Weiterleitung der Information zur unbefristeten Speicherung;
3) das Langzeitgedächtnis (LTS) das sich durch unbegrenzte Kapazität sowie Behaltensdauer und eine primär semantische Kodierung auszeichnet.
Nach dieser Modellidee wird aufgenommene Information in der angegebenen Systemreihenfolge verarbeitet. Dynamische Kontrollprozesse bearbeiten die jeweiligen Speicherinhalte und regeln den Informationsfluß zwischen den Speichern. Die Wahrscheinlichkeit des Informationstransfers ins Langzeitgedächtnis wird als Funktion der Verweilzeit im Kurzzeitgedächtnis angesehen. Daten zeigen jedoch, daß die Verarbeitungsspezifik bedeutsamer ist. Auch scheint die postulierte Abfolge diskreter Speicher kritisch.
Eine Weiterentwicklung hat zum Konzept des Arbeitsgedächtnisses geführt. Bislang werden drei Subsysteme postuliert und z.B. mit Doppelaufgaben-Anforderungen empirisch getestet (Baddeley, 1996): ( Abb. 2 )
1) Die phonologische Schleife (phonological loop), die sich aus dem phonologischen Speicher und dem artikulatorischen Kontrollprozeß zusammensetzt und der Aufbewahrung sprachlicher Information dient, 2) das visuell-räumliche Teilsystem (visuo-spatial sketchpad oder scratchpad), das aus dem what-System (Objektidentifikation, Musterverarbeitung) und dem where-System (Objektlokalisation im Raum) besteht; 3) die zentrale Exekutive (central executive), die als Instanz zur intentionalen Kontrolle der Aufmerksamkeit und mentaler Prozesse, als modalitätsunabhängiges Interface zwischen den Teilsystemen des Arbeitsgedächtnisses und dem Langzeitgedächtnis gilt und die Operationen der Teilsysteme kontrolliert bzw. koordiniert. Die Charakteristika der zentralen Exekutive sind ein aktueller Untersuchungsschwerpunkt.
Das Langzeitgedächtnis besteht ebenfalls aus mehreren Teilsystemen, deren Spezifik intensiv erforscht und z.T. kontrovers diskutiert wird. Eine oft benutzte Taxonomie stammt von Squire (1992,; s. Roth & Prinz, 1996). In diesem Modell wird zwischen deklarativem und nicht-deklarativem Gedächtnis differenziert. Das deklarative Gedächtnis speichert Ereignisse und Fakten, die meist verbalisierbar sind und mit bewußter Erinnerung einhergehen. Es wird in episodisches und semantisches Gedächtnis unterteilt. Während das episodische Gedächtnis Ereignisse in ihrem raum-zeitlichen autobiographischen Kontext speichert, enthält das semantische Gedächtnis Wissen über Wortbedeutungen, allgemeines Faktenwissen über die Realität. Als elementare Wissenseinheiten werden Begriffe und semantische Relationen angenommen, die auch komplexere Konfigurationen bilden (Schemata, Frames, Scripts). Fraglich ist, ob episodisches und semantisches Gedächtnis separate Gedächtnissysteme darstellen oder einem einheitlichen System zuzuordnen sind, das lediglich unter verschiedenen Umständen arbeitet. Das semantische Gedächtnis ist als Akkumulation vieler Episoden vorstellbar. Es repräsentiert jene Merkmale, die diesen Episoden gemeinsam sind (vgl. Baddeley, 1996). Im deklarativen Gedächtnis werden verschiedene Formate mentaler Repräsentationen angenommen: 1) Vorstellungen (mental images) als analoge, wahrnehmungsbasierte Form der Wissensrepräsentation, 2) Zeitstrings (temporal strings), als Kodierung der physikalisch bestimmten Abfolge von Ereignissen in Gestalt linearer Ordnungen, 3) Propositionen (propositions) als Kodierung der Bedeutung von Sachverhalten in amodaler Form. Dabei wird z.B. diskutiert, ob die Repräsentationsformate unabhängig und permanent existieren und ob Propositionen ein psychologisch angemessener Beschreibungsformalismus für amodale Repräsentationen sind.
Unter dem nicht-deklarativen oder prozeduralen Gedächtnis wird eine heterogene Klasse von Phänomenen zusammengefaßt. Ihnen gemeinsam ist, daß sie sich im Verhalten äußern und der bewußten, verbalisierbaren Erinnerung schwer zugänglich sind. Sie werden in Zusammenhang mit verschiedenen Lernprozessen, wie implizitem Lernen und Konditionierung, gebracht. Das können perzeptive, perzeptiv-motorische oder kognitive Fertigkeiten sein, d.h. Handlungen sowie Regeln und deren Anwendung. Sie zeichnen sich durch ihre Modalitäts- und Reaktionsspezifik, geringe Beeinflußbarkeit durch semantische Faktoren und durch ihre relative Isolation vom übrigen Wissenssystem aus.
Die Unterscheidbarkeit von deklarativem und nicht-deklarativem Gedächtnis wird durch neuropsychologische Befunde (Amnesien) gestützt: Verschiedene Informationsarten scheinen in verschiedenen Hirnarealen verarbeitet zu werden (Neurobiologie des Gedächtnisses). Allerdings gibt es keine 1:1 Zuordnung von Hirnarealen zu Funktionen. Aussagen über die Lokalisation gespeicherter Information tragen deshalb noch stark spekulativen Charakter. Auch die aktuell sehr intensiv diskutierten funktionellen Dissoziationen zwischen expliziten und impliziten Gedächtnisleistungen (deklaratives vs. nicht-deklaratives Gedächtnis) nach Hirnverletzungen sind kein zwingender Beleg für die Existenz multipler Gedächtnissysteme.
Gedächtnismodelle
Es gibt sehr zahlreiche Modellvorstellungen über Struktur und Funktion des Gedächtnisses. Ausgehend von der globalen Differenzierung verschiedener Wissensinhalte lassen sich drei Modellklassen unterscheiden:
1) Propositionale Repräsentationssysteme (assoziative, strukturierte und formal-logische) werden primär zur Abbildung des semantischen und episodischen Wissens genutzt. Zu dieser Kategorie zählen semantische Netze, Frames und Skripts. 2) Regelbasierte Repräsentationssysteme verknüpfen Annahmen über die Struktur des Gedächtnisses mit Annahmen über Verarbeitungsprozesse. Sie bestehen aus Datenspeicher (deklaratives Wissen), Regelspeicher (prozedurales Wissen) und Interpreter (Kontrollwissen). Produktionsysteme sind die bekannteste Form regelbasierter Systeme. Die ACT-Theorie läßt sich hier einordnen. 3) Analoge Repräsentationssysteme werden zur Abbildung des bildhaft-anschaulichen Wissens herangezogen. Viele Modellvorstellungen sind sog. hybride Repräsentationssysteme, d.h. sie enthalten Elemente verschiedener Klassen.
Diese psychologisch interpretierbaren Modellvorstellungen für die Struktur und Funktionsweise des Gedächtnisses sind zweifellos auf einer abstrakten Metaebene angesiedelt und entfernt von der biologischen Realität. Eine alternative Entwicklung liegt in Gestalt paralleler Gedächtnismodelle, auch neuronale oder konnektionistische Netze genannt, vor. Darin wird nichtsymbolische Information durch das autonome Zusammenwirken vieler Einheiten verarbeitet (Selbstorganisation). Die Verarbeitung erfolgt parallel, die Speicherung ist auf das System verteilt. In diesen Modellen gibt es also keine wohldefinierten Verarbeitungsstufen und keine Trennung von Speicher und Exekutive; Regeln sind nicht explizit repräsentiert. Die Diskussion um Vor- und Nachteile konnektionistischer Modelle gegenüber den klassischen symbolischen Modellen wird gegenwärtig vehement geführt.
Literatur
Albert, D. & Stapf, K.-H. (Hrsg.). (1996). Gedächtnis. Enzyklopädie der Psychologie (C/II/4). Göttingen: Hogrefe.
Atkinson, R.C. & Shiffrin, R.M. (1968). Human memory: A proposed system and its control processes. In K.W. Spence (ed.), The psychology of learning and motivation: advances in research and theory, Vol. 2 (pp. 89-195). New York: Academic Press.
Baddeley, A.D. (1996). Human memory. Theory and practice. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Markowitsch, H.J. (1998). Das Gedächtnis des Menschen. In E.P. Fischer (Hrsg.), Neue Horizonte 97/98. Gedächtnis und Erinnerung (S. 167-231). München: Piper.
Roth, G. & Prinz, W. (Hrsg.). (1996). Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Abb. Gedächtnis 1. Mehrspeichermodell des Gedächtnisses.
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