Lexikon der Psychologie: Intelligenz
Essay
Intelligenz
Albert Ziegler und Kurt A. Heller
Anfänge der Intelligenzforschung
Die Intelligenzforschung ist einer der florierendsten Forschungszweige der Psychologie. Gleichwohl mangelt es ihr an einer verbindlichen, allgemein akzeptierten Definition ihres Forschungsgegenstands. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts definierte William Stern Intelligenz als Fähigkeit zur Anpassung an unbekannte Situationen bzw. zur Lösung neuer Probleme. Eine pragmatisch-operationale Definition legte Boring vor, der Intelligenz als das festsetzte, was der Intelligenztest mißt. Heute wird Intelligenz zumeist als ein theoretisches, nur mittelbar erschließbares Konstrukt behandelt. Expertenbefragungen belegen die größte Übereinstimmung bei höheren mentalen Prozessen, wie Problemlösen, Entscheidungsfindung, abstraktem Denken und Repräsentation. Dabei hat die moderne Intelligenzforschung auch den Brückenschlag zu Nachbarwissenschaften geschafft, beispielsweise der Neurophysiologie, der Kognitionswissenschaft und nicht zuletzt der Computerwissenschaft, insbesondere der künstlichen Intelligenzforschung.
Historisch war die Intelligenzforschung zunächst an physiognomischen Merkmalen von Personen interessiert, beispielsweise ihrer Mimik oder Handschrift. So wurden bereits in der Antike Personen, deren Gesichtsphysiognomie der von Eseln glich, als dumm bezeichnet. Solche Versuche haben sich aber ebenso als Sackgasse entpuppt wie die von Franz Joseph Gall (1758-1828) begründete Schädellehre, in der ein Zusammenhang von Kopfform und geistigen Eigenschaften behauptet wird. Der Gedanke einer Intelligenzmessung wird gewöhnlich Sir Francis Galton (1822-1911) zugeschrieben. Er erfaßte physiologische Funktionen wie Sehschärfe, Muskelkraft oder Reaktionszeit, wodurch er sich Aufschluß auf psychische Prozesse erhoffte. Auch wenn sein Forschungsprogramm recht bald stagnierte, kommt ihm das Verdienst zu, zentrale Fragestellungen der Intelligenzforschung wie die Vererbbarkeit, Soziabilität oder Meßbarkeit der Intelligenz, erstmals thematisiert zu haben. Der erste Intelligenztest, auf den das spätere Binetarium und zahlreiche Folgeversionen zurückgehen, wurde von dem Franzosen Alfred Binet (1857-1911) entwickelt.
Klassische Intelligenzmodelle
Der Übergang zur modernen Intelligenzforschung wird durch die Auffassung der psychometrischen Forschungstradition markiert, nach der psychische Phänomene ebenso meßbar und somit mathematisch beschreibbar sind wie physikalische. Diese bis in die 70er Jahre dominierende Sichtweise führte zu einer Entmystifizierung menschlichen Denkens und ebnete den Weg zu strukturell-funktionalen Betrachtungsweisen.
Die einfachste, häufig im Alltag noch anzutreffende Modellvorstellung von Intelligenz geht von einem einheitlichen, homogenen Konstrukt aus. Doch schon Spearman (1863-1945) forderte eine differenziertere Betrachtung und plädierte für eine Unterscheidung von einem Generalfaktor der Intelligenz und zusätzlichen Spezialfaktoren. Seine Vorstellungen wurden von Cattell aufgegriffen und präzisiert. Cattell unterschied zwei Faktoren zweiter Ordnung, die er als fluide und kristalline Intelligenz bezeichnete. Die fluide Intelligenz repräsentiert die gehirnphysiologische Effizienz, die sich beispielsweise in der Verarbeitungsgeschwindigkeit ausdrückt. Dagegen ist die kristalline Intelligenz als Niederschlag individueller Erfahrungen zu sehen, die etwa dem verbalen Verstehen oder der routinisierten Durchführung effektiver Problemlösestrategien zugrunde liegen. Während die Entwicklung der kristallinen Intelligenz somit stark sozialisationsabhängig ist, nahm Cattell fluide Intelligenz als genetisch fixiert an. Interessant ist der postulierte Altersverlauf: Während die fluide Intelligenz altersbedingten Abbauprozessen unterliegt, kann die kristalline Intelligenz bis in das hohe Alter gesteigert werden.
Thurstone (1887-1955) nahm die Position ein, daß Intelligenzleistungen das Zusammenspiel von sieben unabhängigen Primärfaktoren widerspiegeln, darunter verbale Kompetenzen, Merk- und Rechenfähigkeit sowie räumliches Vorstellungsvermögen. Guilford ging dagegen von einer Vielzahl weiterer Einzelfaktoren aus (insgesamt 150), zu denen er aufgrund theoretischer Vorüberlegungen gelangte. In seinem Würfelmodell entsprechen die drei räumlichen Dimensionen des Würfels (1) intellektuellen Operationen (z.B. Erkenntnis, Gedächtnis, Bewerten), (2) deren Inhalte (z.B. figural, symbolisch) und (3) den Produkten intelligenten Verhaltens (z.B. System, Transformation). Während Guilford seinem Modell vor allem eine heuristische Funktion zuerkannte und durch seine Unterscheidung von konvergenter (Intelligenz) und divergenter Denkproduktion (Kreativität) bekannt wurde, rekurrieren sogenannte Intelligenzstrukturtests oder differentielle Fähigkeitstests häufig auf Thurstones Primärfaktorenmodell.
Aktuelle Intelligenzmodelle
Heute dominieren multidimensionale und prozeßorientierte Modelle der Intelligenz. So postuliert Gardner sieben bzw. neuerdings zehn eigenständige Intelligenzdimensionen. Im Gegensatz zu den hauptsächlich statistisch fundierten klassischen Intelligenzmodellen stellte er theoriegeleitet verschiedene Kriterien auf, die eine intellektuelle Fähigkeit erfüllen muß, damit sie sich als eigenständige Intelligenzdimension qualifiziert. Zunächst muß diese Fähigkeit in einer bestimmten Hirnregion lokalisiert werden können. Dies läßt sich beispielsweise daran erkennen, daß Schädigungen bestimmter Gehirnareale zum Verlust der fraglichen Fähigkeit führen, während andere kognitive Leistungen intakt bleiben. Ferner sollten Spezialbegabungen für diese Fähigkeiten nachweisbar sein, während gleichzeitig andere Fähigkeiten unauffällig oder gar unterdurchschnittlich ausgeprägt sein können, wie dies beispielsweise bei "Idiot-Savants" der Fall ist. Die fragliche Fähigkeit soll eine ontogenetische und evolutive Eigenständigkeit aufweisen, also in verschiedenen Kulturen eine vergleichbare Entwicklungssequenz durchlaufen. Die Selbstständigkeit einer Intelligenz muß sich auch darin zeigen, daß es geistige Operationen und geeignete experimentelle Nachweismöglichkeiten gibt, die nur für sie typisch sind. Schließlich sollte eine autonome Intelligenz die Entwicklung eines eigenständigen Notationssystems (Zahlen, Musiknoten) oder typische kulturelle Überformungen (Sport, Theater) begünstigen.
Die von Gardner postulierte sprachliche Intelligenz drückt sich in der Sensitivität gegenüber Wortbedeutungen oder sprachlichen Gedächtnisleistungen aus. Logisch-mathematische Intelligenz beinhaltet mathematische und logische Denkleistungen, wie sie beispielsweise das Führen mathematischer Beweise erfordert. Räumliche Intelligenz liegt den Fähigkeiten zur Raumwahrnehmung und -vorstellung und dem räumlichen Denken zugrunde. Musikalische Intelligenz umfaßt nicht nur musikalische Kompetenzen im engeren Sinn, wie das Komponieren von Liedern oder das Spielen eines Musikinstruments, sondern vielfältige künstlerische Kompetenzen, was auch emotionale Aspekte einschließt. Unter der körperlich-kinästhetischen Intelligenz versteht Gardner körperliche Geschicklichkeit und Bewegungskompetenzen, über die etwa Tänzer oder Kunstradfahrer in hohem Maß verfügen. Die intrapersonale Intelligenz meint die Sensibilität gegenüber der eigenen Empfindungswelt, was zum Verständnis des eigenen Verhaltens beiträgt. Interpersonale Intelligenz bezeichnet die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung anderer Personen, um ihre Stimmungen, Motivationen und Intentionen zu erkennen. Neuerdings formulierte Gardner weitere Kandidaten der Intelligenz, z.B. "spirituale" und "existentiale" Intelligenzformen.
Andere multiple Intelligenz- und Begabungsmodelle berücksichtigen stärker die Abhängigkeit der Intelligenzleistungen von sozio-kulturellen Anforderungssituationen und Bewertungskontexten. So betont Heller neben Intelligenzfaktoren im engeren Sinn (sprachliche, mathematische, technisch-konstruktive u.a.) die Bedeutung der Kreativität (Flexibilität, Originalität usw.) und sozialer Kompetenzen (Intentionsbildung, Planung sozialer Handlungen usw.), die auf die Umsetzung individueller Begabungspotentiale Einfluß nehmen können.
Einen prozeßorientierten Ansatz der Intelligenz vertritt Robert Sternberg. Seine Triarchische Intelligenztheorie umfaßt drei Subtheorien. Die Komponentensubtheorie befaßt sich mit der effizienten Verarbeitung von Information. Dabei lassen sich drei Subprozesse identifizieren: 1) Metakomponenten unterstützen die Planung, Steuerung und Evaluation von Problemlösungen. Sie umfassen u.a. die Fähigkeiten, ein Problem überhaupt zu erkennen, die Problemlösung zu überwachen und die Aktivierung von Aufmerksamkeitsressourcen. 2) Performanzkomponenten sind den Metakomponenten untergeordnete Prozesse, quasi deren ausführende Organe, die beispielsweise die Problemenkodierung leisten. 3) Wissenserwerbskomponenten steuern das Lernen und den Wissenserwerb, wozu die Unterscheidung relevanter und irrelevanter Information sowie die Integration alter und neuer Information zählen. Die Erfahrungssubtheorie beschreibt das Zusammenspiel der drei soeben erläuterten Komponenten mit der Erfahrung. Am bedeutsamsten sind hier die Konzepte der Neuigkeit und der Automatisierung. Beispielsweise ermöglicht erst das Zusammenspiel hochautomatisierter (Lese-)Prozesse und der Intelligenzkomponenten das Textverständnis. Je stärker der Leseprozeß automatisiert ist, desto größere mentale Kapazitäten können auf die Anpassung an die im Text enthaltenen neuen Informationen verwendet werden. Je schneller diese Anpassungsleistungen an das Neue gelingen, desto mehr Kapazitäten stehen umgekehrt für die Automatisierung zur Verfügung. Höhere Fähigkeit in einem der beiden Fähigkeitsbereiche hat somit positive Auswirkungen auf den anderen. In der Kontextsubtheorie werden die Intelligenzkomponenten erfahrungsbasiert zur Lösung von drei Lebensaufgaben herangezogen: Adaption an sozio-kulturelle Umwelten sowie die Modifikation alter und die Auswahl neuer sozio-kultureller Umwelten. Hierbei handelt es sich um einen Aspekt der praktischen bzw. sozialen Intelligenz, womit der Tatsache Rechnung getragen wird, daß herausragende Intelligenzleistungen in einer Kultur in einer anderen wertlos sein können.
Intelligenzmessung
Das gebräuchlichste Intelligenzmaß ist der Intelligenzquotient, kurz: IQ. Er ist ein reines Vergleichsmaß, das angibt, wie die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Person relativ zu derjenigen einer vorab bestimmten Vergleichsgruppe liegt. Deren durchschnittlicher IQ wird auf 100 festgesetzt. Falls beispielsweise eine Person einen IQ von 100 aufweist, so hat die Hälfte aller Personen eine gleich große oder größere Intelligenz. Wie der Mittelwert der Intelligenz wird auch die Intelligenzverteilung an einer Vergleichsgruppe normiert. Zwischen den IQ-Werten 85 und 115 liegen ungefähr 68% der Vergleichsgruppe. Über einem IQ von 130 spricht man von Hochbegabten (etwa 2-3 %), unter einem IQ von 70 von Minderbegabten (2-3 %). Da der IQ kein absolutes Maß der Intelligenz ist, sondern eine relative Position widerspiegelt, werden zur Interpretation eines persönlichen Testergebnisses spezielle Normwerte zur Verfügung gestellt, die die Einordnung des individuellen IQ nach Alter, Geschlecht, Schulart usw. erlauben.
Anlage-Umwelt-Problematik
Die häufig gestellte Frage, welche Anteile der Intelligenz anlage- und umweltbedingt sind, kann so nicht beantwortet werden, da das mit einem Intelligenztest erfaßte Konstrukt stets ein Interaktionsprodukt präsentiert. Es läßt sich jedoch näherungsweise abschätzen, welche Anteile der Intelligenzunterschiede zwischen Personen anlage- oder umweltbedingt sind. Zwillings- und Adoptivstudien spielen hierbei eine gewichtige Rolle. Da eineiige Zwillinge identische Gene aufweisen, können sämtliche Unterschiede zwischen ihnen auf Umweltfaktoren oder spezifische Wechselwirkungen von Anlagefaktoren und Umweltbedingungen attribuiert werden. So zeigt sich, daß sich eineiige Zwillinge ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge. Auch leibliche Geschwister sind untereinander ähnlicher als Geschwister und ihre Adoptivgeschwister. Nach Eysenck erklären genetische Faktoren 70% der in IQ-Tests feststellbaren Varianz, nach Jensen mindestens 50%.
Intelligenzförderung
Aufgrund der mittlerweile akzeptierten Umwelteinflüsse auf die Intelligenzentwicklung wurden vielfältige Förderprogramme erprobt. Am bekanntesten wurde das sogenannte Headstart-Projekt in den USA, das eine Reaktion auf den Sputnik-Schock war. Obwohl die ersten Ergebnisse enttäuschend waren, da die anfänglichen Fördereffekte schnell verloren gingen, zeigten sich in Folgeuntersuchungen in den 90er Jahren sogenannte Sleepereffekte, also Fördereffekte, die erst nach längeren Zeiträumen sichtbar werden. Mittlerweile werden viele erfolgreiche Förderprogramme berichtet, beispielweise im Vorschulbereich oder im Beruf. Eine endgültige Abschätzung der prinzipiell erreichbaren Fördereffekte fällt jedoch schwer, solange das sogenannte Indikatorenproblem ungelöst ist. Damit ist der Sachverhalt angesprochen, daß die Trainingsaufgaben oftmals den Intelligenztestaufgaben, mit denen der Trainingserfolg meßbar ist, sehr ähnlich sind. Insbesondere in der Expertiseforschung hat man gefunden, daß herausragende Leistungen, beispielsweise im Schachspiel, im Ingenieurswesen oder in der Mathematik nicht nur intelligenzabhängig sind, sondern auch einen breiten domänspezifischen Erfahrungsschatz und eine hohes Maß an Aufgabenmotivation erfordern. Ähnliche Konzeptionen wurden im Rahmen der Forschung zu Hochbegabung entwickelt, die in ihrem prospektiven Ansatz die komplementäre Ergänzung zum retrospektiven Paradigma der Expertiseforschung bildet.
Literatur
Funke, J. & Vaterrodt-Plünnecke, B. (1998). Was ist Intelligenz? München: Beck.
Gruber, H. & Ziegler, A. (1996). Expertiseforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Heller, K.A., Mönks, F.J. & Passow, A.H. (Hrsg.). (1993). International Handbook of Research and Development of Giftedness and Talent. Oxford: Pergamon.
Sternberg, R. J. & Grigorenko, E. L. (1997). Intelligence, Heredity, and Environment. New York: Cambridge University Press.
Wittmann, M., Eisenkolb, A. & Perleth, C. (1997). Neue Intelligenztests. Augsburg: Augustus.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.