Lexikon der Psychologie: Kognition
Essay
Kognition
Rainer H. Kluwe
Begriff
Der Begriff Kognition wird als Sammelbezeichnung für die geistige Aktivität von Menschen verwendet. In der kognitionspsychologischen Forschung bezeichnet Kognition die Gesamtheit der informationsverarbeitenden Prozesse und Strukturen eines intelligenten Systems (Intelligenz), unabhängig vom materiellen Substrat dieses Systems. Menschliche intelligente Systeme umfassen Prozesse und Strukturen für Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, für Gedächtnis, Denken und Problemlösen, für Lernen sowie für Sprachverstehen und Sprachproduktion (Sprache). Von einem intelligenten System, das über solche Funktionen verfügt, wird angenommen, daß es zu flexiblem, adaptiven Verhalten in einer vielfältigen, sich verändernden Umgebung in der Lage ist; es verfügt über die Möglichkeit, in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umgebung zu lernen, d.h. Wissen über seine Umgebung, über die Effekte seines Handelns sowie über sich selbst zu erwerben. Gegenstand kognitionspsychologischer Grundlagenforschung sind demnach die Prozesse und die Strukturen, die spezifischen intelligenten Leistungen zugrundeliegen, d.h die Analyse der Strukturkomponenten, die Analyse der Operationen, die kognitive Prozesse konstituieren, deren Organisationsprinzipien sowie das Zusammenwirken dieser Prozesse.
Historische Entwicklung
Historisch werden die Anfänge einer systematischen, experimentellen und theoretischen Analyse von Kognition in der Psychologie auf die sechziger Jahre zurückgeführt. Erste umfassende Ansätze für eine kognitionspsychologische Grundlagenforschung stammen u.a. von Miller, Galanter und Pribram (1960) sowie Neisser (1967). Der bis dahin dominierende Behaviorismus war vorrangig an gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen beobachtbaren Stimuli und Reaktionen des Organismus interessiert. Interne geistige Prozesse und Strukturen galten als der Beobachtung und damit einer empirischen Prüfung nicht zugänglich. Die behavioristische Forschung stieß dort an die Grenzen ihrer Erklärungsansätze, wo es galt, komplexe kognitive Leistungen wie Sprachverstehen und -produktion, Erinnern und Behalten sowie Problemlösen zu analysieren. Überdies verwiesen eine Reihe von lern- und gedächtnispsychologischen Befunden auf die Wirksamkeit konstruktiver strategischer Prozesse bei geistigen Leistungen, für die es keine Entsprechung in behavioristischen Konzepten gab.
Intelligentes Verhalten
Menschliches intelligentes Verhalten wird durch eine Reihe von Leistungen charakterisiert, die wiederum für das Verständnis von Kognition wichtig sind. Menschen zeigen zielgerichtetes, adaptives Verhalten; sie sind in der Lage, auf vielfältige Veränderungen ihrer Umgebung flexibel zu reagieren. Adäquates Verhalten in einer komplexen, dynamischen Umgebung verlangt die Beachtung und Verarbeitung von vielen Reizen sowie die Nutzung von umfangreichen Wissensbeständen zur Auswahl der Verhaltensantwort, und es verlangt kontinuierliches Lernen aus den Effekten von Handlungen. Menschen kommunizieren durch Sprache und erwerben ein Konzept ihrer selbst (Newell, 1980). Von einem kognitiven System, das solche Leistungen hervorbringen soll, wird angenommen, daß es folgende Komponenten umfaßt: ein Gedächtnissystem, eine interne, symbolische Repräsentation der Umgebung, Prozesse, die über der internen Repräsentation arbeiten, Prozesse, die als Ergebnis interner Verarbeitung Verhalten generieren; ferner Systeme für Wahrnehmung und Motorik als Schnittstellen mit der Umgebung des Organismus zur Aufnahme von Information sowie zum Handeln.
Interne Strukturen und Prozesse
Zentral für die kognitionspsychologische Grundlagenforschung ist die Annahme einer internen Repräsentation der Umgebung des Organismus. Damit ist die weitere Annahme verbunden, daß die geistige Ausstattung eines Menschen als ein System zur Verarbeitung von Information aufgefaßt werden kann. Damit richtet die Kognitionspsychologie die Aufmerksamkeit auf interne, konstruktive Prozesse bei der Verarbeitung von Stimuli und bei der Selektion von Verhaltensantworten. Kognition basiert demnach auf hypothetischen, internen Strukturen (z.B. Gedächtnisstrukturen) sowie auf Prozessen (z.B. Erinnern, Wiedererkennen), die aus der Umgebung aufgenommene und intern gespeicherte Information verarbeiten. Die symbolisch repräsentierten Inhalte bilden die Information, die gespeichert und unter Beteiligung verschiedener Teilsysteme für Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Behalten und Erinnern verarbeitet wird. Die gespeicherte interne Repräsentation der Umgebung umfaßt auch die wahrgenommenen Effekte eigenen Handelns und konstituiert insgesamt das Wissen eines kognitiven Systems. Dieses kann unvollständig und fehlerhaft sein, aber trotzdem individuell adaptives Verhalten zulassen. Mit der Annahme einer internen Repräsentation der Umgebung sowie der Effekte eigenen Handelns ist die Vorstellung verbunden, daß kognitive Systeme, ohne daß Sachverhalte konkret vorliegen, eigenes Handeln antizipieren können. Der Zugriff auf das eigene Wissen, die Möglichkeit zum internen Probehandeln erlaubt eine Bewertung und Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten sowie der eigenen kognitiven Aktivität unter Bezug auf spezifische Ziele. Dies wiederum ist eine Grundlage für die Auswahl adäquaten Verhaltens sowie für die Anpassung von Verhalten an situative Erfordernisse (allgemeines Schema eines Systems zur Informationsverarbeitung s. Abb. ).
Die Interaktion eines kognitiven Systems mit seiner Umgebung erfolgt durch Strukturen und Prozesse für die Wahrnehmung physikalischer Veränderungen (Sensorik) sowie durch Strukturen und Prozesse zur Selektion und Steuerung motorischer Antworten. Vom sensorischen System wird angenommen, daß es nicht direkt mit den Gedächtnissystemen verbunden ist, sondern daß modalitätsspezifische sensorische Puffer den Input aus der Umgebung in das Gedächtnissystem vermitteln. Die Beachtung und Verarbeitung wahrgenommener Signale und die Verhaltensauswahl erfolgen auf der Basis gespeicherten Wissens, sind also nicht unabhängig vom Gedächtnisbesitz des kognitiven Systems. Bezüglich des postulierten Gedächtnissystems ist die Unterscheidung zwischen Langzeitgedächtnis und Arbeitsgedächtnis (Gedächtnis) zentral. Als Aufgabe der kognitionspsychologischen Grundlagenforschung ergibt sich a) die Analyse der internen Repräsentation der Umgebung eines Systems, d.h. der Wissensstrukturen und Wissenseinheiten, ihrer Organisation und ihrer Dynamik, b) die Spezifikation der Prozesse der Informationsverarbeitung, die an Sprachverstehen und -produktion, Wahrnehmung, Behalten und Erinnern, Denken und Problemlösen beteiligt sind, sowie der Prozesse, die zum Erwerb (Lernprozesse) und zur Nutzung von Wissen (z.B. in Problemlöseprozessen) für Ziele des Organismus eingesetzt werden.
Repräsentation von Wissen
Bezüglich der Repräsentation von Wissen wurden zur Modellbildung von Wissensstrukturen sog. semantische Netzwerke entwickelt, in denen Begriffe als Knoten, Relationen zwischen den Begriffen als Kanten des Netzwerks abgebildet wurden. Von Bedeutung wurde die Vorstellung einer sich ausbreitenden Aktivation im Netzwerk, die Suchprozessen im Gedächtnis zugrundeliegt. Eine andere Form der Modellbildung ist die Abbildung von Wissen in Form von Produktionsregeln. Solche Regeln bestehen aus Bedingungs-Aktions-Verknüpfungen. Ist der Bedingungsteil der Regel durch den im Arbeitsgedächtnis aktiven Zustand erfüllt, dann "feuert" die Regel, d.h. der Aktionsteil wird effektiv. Dies Prinzip ist für die Simulation menschlicher Kognition durch Computerprogramme wichtig geworden. Schließlich werden Wissensstrukturen durch mentale Modellebeschrieben. Dieses Konzept wurde inbesondere zur Beschreibung der internen Abbildung komplexer, dynamischer Sachverhalte eingeführt. Die Funktion mentaler Modelle wird nicht nur in der Organisation eines komplexen Wissensbestandes, sondern auch in der Möglichkeit gesehen, Zustände intern zu simulieren, zu antizipieren und Effekte von Eingriffen zu bewerten. Die interne Repräsentation der Umgebung eines Organismus erfolgt vermutlich in verschiedenen Kodierungsformaten. Eine verbreitete Unterscheidung sieht eine duale Kodierung vor. Danach werden verbale und nonverbale Repräsentationsformate unterschieden.
Serielle verus parallele Verarbeitung
Bezüglich des Verlaufs der Informationsverarbeitung ist lange Zeit angenommen worden, daß diese streng seriell sei und einem stufenweisen Prozeß folgen würde. Stimuli werden über das Wahrnehmungssystem aufgenommen, intern repräsentiert und werden dann einer festen Folge von Stufen folgend verarbeitet, um schließlich eine Verhaltensantwort auszuwählen. Dem entsprechen die regelbasierten symbolischen Architekturen in vielen Simulationsprogrammen. Eine Unzulänglichkeit dieser Sichtweise besteht u.a. darin, daß die kognitiven Prozesse im wesentlichen datengetrieben, d.h. von externen Stimuli ausgehend aktiviert werden (bottom-up-Verarbeitung). Es ist jedoch davon auszugehen, daß die Informationsverarbeitung auch konzeptuell geleitet wird, d.h. von den individuellen Erfahrungen und Erwartungen beeinflußt wird (top-down-Verarbeitung). Überdies muß angenommen werden, daß sich kognitive Prozesse überlappen, und daß sie parallel verlaufen können. In den letzten 15 Jahren wurde die Annahme einer parallelen Verarbeitung zunehmend elaboriert. Mit dem Konnektionismus sind als wichtige Ergänzung zur bis dahin dominierenden symbolischen Repräsentation und regelbasierten Verarbeitung neue Modellvorstellungen vorgetragen worden. Die Architektur konnektionistischer Systeme sieht zahlreiche einfache, untereinander verknüpfte Verarbeitungseinheiten vor; diese sind, anders als in den bisherigen symbolisch orientierten Modellen jedoch nicht bedeutungshaltige Einheiten. Es wird nicht mehr angenommen, daß die Verarbeitung von Information durch serielle Anwendung von Regeln erfolgt. Die Verarbeitungseinheiten arbeiten parallel.
Neuropsychologie
Von besonderer Bedeutung sind seit einigen Jahren neuropsychologische Analysen für das Verständnis menschlicher Kognition geworden (Neuropsychologie). Aus experimentellen Untersuchungen an Patienten mit spezifischen zerebralen Läsionen wird angestrebt, systematisch Einsichten in die neuroanatomischen Substrate und Strukturen zu gewinnen, die hypothetischen kognitiven Prozessen und Strukturen der Sprache, des Gedächtnisses, der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit zugrundeliegen. Es werden Schlußfolgerungen bezüglich der neuroanatomischen Substrate formuliert, die intakten kognitiven Leistungen zugrundeliegen könnten. Biopsychologische, experimentelle Analysen mit gesunden Personen setzen außer EEG-Analysen vermehrt bildgebende Verfahren ein, wie fMRI (funktionelle Kernspintomographie), PET (Positronen-Emissions-Tomographie). Es ist z.B. auf diese Weise möglich geworden, Annahmen über die Beteiligung verschiedener Gedächtnissysteme an Speicherungs- und Erinnerungsleistungen zu prüfen.
Begrenzte Kapazität menschlicher Informationsverarbeitung
Eine bedeutende durch empirische Befunde gestützte Annahme betrifft die Begrenztheit und Selektivität menschlicher Informationsverarbeitung. Zu einem Zeitpunkt kann nur eine begrenzte Menge von Information im Arbeitsgedächtnis aktiviert und verarbeitet werden. Die ältere Annahme eines strukturellen Flaschenhalses des menschlichen kognitiven Systems ist heute umstritten. An ihre Stelle sind Annahmen über sog. exekutive Prozesse getreten, die den Verlauf der Informationsverarbeitung so steuern, daß selektiv Information verarbeitet wird. Die Funktion dieser Selektivität wird darin gesehen, daß sie koordiniertes Handeln ermöglicht.
Kontrolle und Steuerung
Von zentralem Interesse bei der Analyse menschlicher Kognition ist die Frage, in welchem Umfang einem intelligenten System der Zugriff auf die eigenen kognitiven Prozesse und Strukturen möglich ist. Eine wichtige Annahme geht dahin, daß menschliche Kognition vor allem auch dadurch zu kennzeichnen ist, daß die Wissensbestände und die Ergebnisse kognitiver Aktivität selbst wieder zum Gegenstand der Informationsverarbeitung gemacht werden können. In diesem Zusammenhang wird von Metakognition gesprochen. Der Begriff bezieht sich auf Wissen über die eigene kognitive Ausstattung, deren Stärken und Schwächen (z.B. Metagedächtnis) sowie auf Prozesse, die zur Kontrolle und Steuerung eigener kognitiver Aktivität eingesetzt werden. Letztere werden heute unter dem Begriff der exekutiven Funktionen diskutiert und stellen derzeit eine wichtige Thematik kognitions- und neuropsychologischer Forschung. Damit sind Mechanismen gemeint, die eine Kontrolle und Bewertung sowie eine flexible Steuerung kognitiver Prozesse leisten. Es ist auf diese Weise möglich, zwischen verschiedenen kognitiven Anforderungen zu wechseln, sich auf Ereignisse antizipierend vorzubereiten, kognitive Aktivität gegenüber Störungen aufrechtzuerhalten und abzuschirmen, oder abzubrechen, wenn wichtigere Ziele zu verfolgen sind. Damit ist es dem Menschen möglich, die eigene kognitive Aktivität unabhängig von den aktuellen situativen Gegebenheiten zu selegieren und zu steuern. Seit langer Zeit wird in der Kognitionspsychologie angenommen, daß die Kontrolle und Steuerung des kognitiven Geschehens durch eine übergeordnete, zentrale Instanz, oft als zentrale Exekutive bezeichnet, erfolgt. Bislang liegen weder experimentelle noch neuroanatomische Befunde vor, die diese Annahme stützen. Kontrolle und Steuerung kognitver Aktivität wird häufig mit Arealen des präfrontalen Cortex (Zentralnervensystem) in Verbindung gebracht. Die Befundlage ist jedoch uneinheitlich; der gegenwärtige Forschungsstand läßt derzeit eine spezifische Lokalisation exekutiver Funktionen in neuroanatomischen Strukturen nicht zu.
Kontrollierte und automatische Informationsverarbeitung
Kognitive Aktivität ist nicht notwendig bewußt und kontrolliert. Elementare, umfangreiche Anteile kognitiver Aktivität verlaufen automatisch, d.h. ohne daß sie willentlich beeinflußbar sind, und ohne daß sich das Individuum dieser Prozesse gewahr wird. Andere Prozesse gelten als kontrolliert, weil sie gezielt selegiert und gesteuert werden. Solche kontrollierten Prozesse verlaufen langsam, gelten als leicht änderbar und beanspruchen das Arbeitsgedächtnis. Bei ausreichend langen Übungssequenzen können kontrollierte Prozesse zunehmend automatisiert werden, d.h. sie werden im Verlauf des Lernprozesses sukzessiv rascher und fehlerlos ablaufen. Ein wesentliches Merkmal automatisierter kognitiver Aktivität ist die Fähigkeit, gleichzeitig weitere Aufgaben bewältigen zu können.
Bewußtsein wird in diesem Zusammenhang mit dem Vorgang des Sichgewahrwerdens der eigenen kognitiven Prozesse, der Ergebnisse kognitiver Aktivität und der sensorischen Empfindungen gleichgesetzt. In der Regel wird angenommen, daß ein Individuum darüber Auskunft geben kann. Allerdings gelten subjektive, auf Introspektion basierende Mitteilungen als unzuverlässige Datenquelle. Überdies muß zwischen verschiedenen Formen des Bewußtseins unterschieden werden. Die Möglichkeit zur Kontrolle und Steuerung kognitiver Prozesse wird auch als entscheidendes Kriterium für den freien Willen eines kognitiven Systems diskutiert.
Forschungsmethoden
Unter den wissenschaftlichen Methoden zur Analyse menschlicher Kognition dominieren experimentelle Analysen, in denen kognitive Prozesse unter systematisch hergestellten und kontrollierten Bedingungen im Labor untersucht werden (Experiment). Eine weitere Methode besteht in der Entwicklung von Modellen zur Simulation kognitiver Prozesse und Strukturen in Form von Computerprogrammen. Dabei wird aufgrund theoretischer Überlegungen und auf der Basis experimenteller Befunde ein Computerprogramm entwickelt, dessen Leistung mit jenen von Menschen verglichen werden.
Literatur
Anderson, J. (1983). The architecture of cognition. Cambridge, MA.: Harvard University Press.
Miller, G.A., Galanter, E. & Pribram, K.H. (1960). Plans and the structure of behavior. New York: Holt, Rinehart & Winston.
Newell, A. (1980). Physical symbol systems. Cognitive Science 4, 135-183.
Neisser, U. (1967). Cognitive Psychology. New York: Appleton-Century-Crofts.
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