News: Das Bild eines Verwandlungskünstlers
Die Forschungsarbeit wurde von einem Team unter der Leitung von Joseph G. Sodroski vom Dana-Farber Cancer Institute der Harvard Medical School in Boston und Wayne Hendrickson vom Columbia University College of Physicians and Surgeons in New York durchgeführt. Ihre Ergebnisse sind in Nature vom 18. Juni 1998 und in Science vom 19. Juni 1998 erschienen.
Die Wissenschaftler bestätigten mehrere bereits bekannte Merkmale des Proteins, entdeckten jedoch auch einige Überraschungen in dessen Kristallstruktur. "Wir fanden heraus, daß ein Großteil der gp120-Oberfläche durch eine dichte Anordnung von Kohlenhydraten gegen Angriffe geschützt ist sowie durch eine erstaunliche Fähigkeit, seine Form zu ändern", meinte Sodroski.
Das Strukturmodell verriet unter anderem folgende Eigenschaften:
- gp120 hat einen Mechanismus zur Änderung seiner Form, mit dem das Protein vor Antikörpern getarnt ist, bis es CD4-Rezeptorstellen auf den T-Zellen des Immunsystems erreicht hat. Die Bindung an diese stellt den ersten Schritt des Überfalls auf die Zellen dar. Schleifenförmige Abschnitte, die aus der Moleküloberfläche hervorstehen, verdecken die kritischen Andockbereiche. Erreicht das Virus sein Ziel, kollabieren die Schleifen und machen Platz, so daß die Bindungsregionen sichtbar werden.
- Zusätzlich maskiert ein Überzug aus Kohlenhydraten die Rezeptor-Bindungsbereiche der gp120-Oberfläche. Könnten diese Moleküle umgangen oder sogar entfernt werden, wäre dies ein weiterer Angriffspunkt gegen das Virus.
- Die Struktur einer Region, über die gp120 an den Corezeptor CCR5 bindet ist jetzt aufgeklärt. Nur wenn das Virus auch Kontakt zu CCR5 herstellen kann, vermag es an die CD4-Stellen auf der Wirtszelle zu binden. Weil die Corezeptor-Bindedomäne stabil und damit verwundbar ist, bietet sie sich als weiteres Ziel für Medikamente oder Impfstoffe an.
- Weite Teile der Oberfläche von gp120 reagieren nicht mit Antikörpern und sind folglich für das Immunsystem unsichtbar.
- Das Schlüssel-Schloß-Prinzip, nach dem gp120 an den Rezeptor CD4 bindet, wurde sichtbar. Vom Rezeptor steht ein Aminosäurerest (Phenylalanin 43) ab, der genau in eine Vertiefung auf der Oberfläche von gp120 paßt. Der Phenylalaninrest könnte ein Ziel für Medikamente sein, welche diese Wechselwirkung blockieren.
- Verschiedene zusätzliche Höhlen in der gp120- Oberfläche sind zu erkennen, die benutzt werden könnten, um das Molekül an der Bindung an CD4-Rezeptoren zu hindern.
Die neuen Informationen über die Struktur von gp120 deuten darauf hin, daß einige aktuelle Forschungsansätze zur Gewinnung von Impfstoffen gegen AIDS möglicherweise nicht zum Erfolg führen werden. Impfstoffe, die zum Beispiel auf der Grundlage einfacher Teilstücke des Proteins gewonnen wurden, werden vermutlich nicht dessen Fähigkeit, die entscheidenden Regionen erst im letzten Moment zu enttarnen, überlisten können. Gleichzeitig enthüllt die Kristallstruktur verwundbare Teile des gp120-Proteins, auf die sich die Forscher konzentrieren könnten, um neue Medikamente und bessere Impfstoffe zu entwickeln.
"HIV ist ein viraler Verwandlungskünstler", sagt Sodroski. "Es transportiert eine vielfach geschützte Infektionsmaschinerie, welche die Verteidigungsmechanismen des Wirts behindert. Ein Verständnis dieser Maschinerie sollte uns helfen, die Schwachpunkte der Rüstung ins Visier zu nehmen."
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