News: Die Mathematik erobert die Börsen
"Keine Bank, die auf dem wachsenden Markt der Derivate aktiv ist, kann mehr auf die neuen mathematischen Methoden verzichten, wenn sie konkurrenzfähig sein will", sagt Walter Schachermayer, Professor für Angewandte Mathematik und Statistik an der Universität Wien. "In den letzten Jahren gab es einen Boom in der Finanzmathematik. Absolventen dieses Gebiets haben keine Schwierigkeiten, interessante Jobs in Banken und Versicherungen zu finden." Auch akademisch wurde bereits Lorbeer verteilt. So ging der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften im vergangenen Jahr an Myron S. Scholes und Robert C. Merton, die zusammen mit ihrem 1995 verstorbenen Kollegen Fischer Black das mathematische Rüstzeug der neuen Finanztechnik entwickelten. Prof. Schachermayer selbst erhielt im Juli dieses Jahres die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den mit 15 Millionen Schilling (ca. 2,1 Millionen Mark) dotierten Wittgenstein-Preis.
Das Prinzip der Derivate läßt sich mit einem konkreten Beispiel erklären. Ein Unternehmer aus Deutschland beispielsweise, der Küchenmaschinen in die USA exportiert, ist vom Dollarkurs abhängig. Sinkt der Dollar im Verhältnis zur Deutschen Mark, so muß der Unternehmer mit Gewinneinbußen rechnen. Deshalb möchte er sich gegen Kursschwankungen versichern. Seine Bank könnte ihm gegen eine Gebühr anbieten, auch noch in einem halben Jahr die Währungen zum aktuellen Dollarkurs zu tauschen. Ist der Wert des Dollers gleich geblieben oder gestiegen, so ist die Option auf den alten Währungstausch gegenstandslos, da der Unternehmer nun ohnehin gleich viel oder mehr Gewinn erwarten kann. Auch die Bank ist zufrieden; sie verbucht die berechnete Gebühr als Gewinn.
"Ideal wäre es nun, zwei Personen zusammenzuführen, die gegenläufige Risiken besitzen", erklärt Schachermayer. "Zum Beispiel wird ein amerikanischer Exporteur die gleichen Sorgen um den Wechselkurs haben wie der deutsche Unternehmer. Die beiden könnten ihre Risiken an der Börse gegeneinander aushandeln." Sich auf dem Finanzmarkt gegen Risiken abzusichern, ist in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden. Optionen, Futures und Swaps, wie die neuen Finanzprodukte heißen, werden nicht nur für Währungen benutzt, sondern auch bei Aktien und anderen Finanzprodukten.
Selbst Naturkatastrophen wie Sturm- oder Flutschäden werden an der Börse gehandelt. Die "Katastrophen-Bonds" nutzen aus, daß diese Art von Versicherung hervorragend zum Spekulieren einlädt: Die einen wollen sich gegen eventuelle Schäden absichern, die anderen übernehmen gern ein Teil des Risikos, weil sie damit auf schnellen Gewinn hoffen, wenn die Katastrophe nicht eintritt. Eine Schweizer Versicherung vergibt beispielsweise seit zwei Jahren "Hagel-Bonds", die sich nur dann auszahlen, wenn in einer genau definierten Region der Schweiz in einem bestimmten Zeitraum kein Hagel fällt. In Kalifornien kann man in gleicher Weise auf Regen spekulieren. Hier gibt es Derivate, die nur dann gewinnbringend sind, wenn auf dem Flughafengelände vom Herbst bis zum Frühjahr zwischen 43 und 69 Zentimeter Regen fällt.
"Die Grundidee jeder Versicherung ist es, Risiken auf viele Leute zu verteilen. Bei hohen Schadenssummen spannt ein Versicherungsunternehmen ein vielstufiges Netz von Rückversicherungen, um sich selbst abzusichern", erklärt Schachermayer den Erfolg dieser Finanzprodukte. "Das ist aber relativ teuer und schwerfällig gemessen an der Flexibilität der Finanzmärkte." Wem es also gelingt, Rückversicherungen auf den Finanzmarkt zu übertragen, der kann Millionen Mark an Verwalungskosten sparen.
Die Mathematik kommt ins Spiel, um den angemessenen Preis der Derivate zu berechnen. Dazu benötigt man Informationen darüber, wie sich Währungen oder Aktien zukünftig in ihrem Wert verändern oder wie oft Katastrophen zu erwarten sind. Natürlich können auch Mathematiker die Zukunft nicht vorhersagen, aber sie können aus vorhandenen Daten eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ermitteln. Aus ihnen kann man dann mit Hilfe komplizierter Formeln einen fairen Preis für die Derivate ermitteln. In den 70er Jahren haben Black, Scholes und Merton hier Grundlegendes geleistet, doch noch heute gibt es einen hohen Forschungsbedarf. "Die mathematischen Modelle, die man zur Zeit benutzt, können noch wesentlich verbessert werden ", sagt Walter Schachermayer, der sich mit mathematischen Beweisen zentraler Prinzipien aus der Finanzwelt ein internationales Renomée verschafft hat. Zahlreiche private und universitäre Arbeitsgruppen in aller Welt forschen in der Finanzmathematik.
"Das faszinierende an diesem Zweig der Mathematik ist, daß sie sehr eng mit der Praxis verflochten ist", sagt Schachermayer. "In der Physik ist es egal, welches Modell man hat, um die Bewegung der Planeten zu beschreiben, sie bewegen sich immer gleich. Werden aber unsere Modelle in der Praxis angewandt, so beeinflussen sie sofort die Finanzwelt." Theorie und Praxis stehen in einem ständigen Austausch. So pflegt auch Schachermayer, der nach seinem Studium zunächst zwei Jahre bei einer Versicherung arbeitete, weiter den Kontakt zu Mathematikern, die bei Banken und Versicherungen in Wien, Frankfurt oder London arbeiten.
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