News: Uralte Gänge und ihre Bewohner
Wer sich durch die Erde gräbt, hinterläßt Spuren - das dürfte niemanden überraschen. Daß sich allerdings bereits vor über einer Milliarde Jahren wurmartige Tiere durchs Substrat wanden, dürfte sehr viele überraschen: Die fossilen Grabungsgänge, die Forscher jetzt in Gestein dieses Alters fanden, sind doppelt so alt wie sämtliche bekannten Zeugnisse vielzelliger Lebensformen. Ihre Entdeckung verrückt die übliche Zeitskala etwas, nach der der Beginn tierischen Lebens in einer plötzlichen 'Bevölkerungsexplosion' während des frühen Kambriums vor etwa 540 Millionen Jahren vermutet wurde.
Das Kambrium wird oft als Zeitalter des Urknalls in der Evolution der Tiere angesehen. Damals entstand eine Vielfalt von Organismen, die ihre Spuren in Form von Fossilien hinterließen. Als wichtiges Argument für dieses Evolutionsmodell galt, daß in älteren Gesteinen keine vielzelligen Organismen gefunden wurden. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung jedoch ließen einige molekulare Studien vermuten, daß Weichtiere schon lange vor dem Kambrium vorkamen – eventuell schon vor einer Milliarde Jahren. Jetzt untermauern die neuen Funde diese Zeitrechnung, nach der die Diversifikation der Tierbaupläne schon lange vor der kambrischen Explosion einsetzte.
Adolf Seilacher von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und seine Kollegen von der Yale University sowie der Jadavpur University in Kalkutta entdeckten Gänge, die anscheinend zurückblieben, als sich frühe wurmartige Tiere durch den Sand am Grund des flachen Meeres schlängelten, das damals das heutige Zentralindien bedeckte. Diese als "Spurenfossilien" bezeichneten Strukturen blieben bei der Versteinerung der Sandbetten vor 1,1 Milliarden Jahren erhalten (Science vom 2. Oktober 1998). Die vor dieser Entdeckung ältesten bekannten Fossilien, an denen die Existenz multizellulärer Tiere nachgewiesen werden konnte, sind 580 Millionen Jahre alt.
Die neuen Spurenfossilien sind in Chorhat-Sandstein konserviert. Dieses Gestein enthält Sandbetten, die sich während Stürmen anlagerten. Ihre Oberflächen waren periodisch von mikrobiellen Matten bedeckt, die den Sand vor den Meeresströmungen schützte. Möglicherweise gruben sich die frühen wurmartigen Tiere unter diesen Matten durch den Untergrund, die sie als Nahrungs- und Sauerstoffquelle benutzten, da das Wasser in den Sandschichten wahrscheinlich "reduziert" oder sauerstoffarm war.
Allerdings zeichnen auch physikalische Vorgänge Muster in Sedimentgesteine, die von Tieren hinterlassenen Spuren sehr ähnlich sein können – eine Unterscheidung, die bei der Analyse von Spurenfossilien nicht immer leicht zu treffen ist. Seilacher und seinen Kollegen sind jedoch der Ansicht, daß sich die Chorhat-Funde am besten als Erzeugnisse grabender Tiere erklären lassen. So schwanken zum Beispiel die Durchmesser der Tunnel von Gang zu Gang, bleiben jedoch innerhalb jedes einzelnen Tunnels gleich. Zudem unterscheiden sich die Spuren in ihrem Erscheinungsbild von Strukturen, wie sie üblicherweise durch physikalische Vorgänge hervorgerufen werden. Vielmehr ähneln sie jüngeren Spurenfossilien, von denen bekannt ist, daß sie von triploblastischen Tieren – Tieren, die sich wie Würmer aus einem Embryo entwickeln und drei äußere Membranen besitzen – verursacht wurden.
Die Wissenschaftler merken an, daß das Auftreten wurmartiger Tiere zu einem Zeitpunkt schon weit vor dem Kambrium darauf hinweist, daß sich die Körperpläne von Tieren vor dem explosiven Auftauchen neuer Baupläne im präkambrischen/kambrischen Übergang und dem Beginn einer dramatischen Evolution sehr wenig geändert haben.
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