News: Masern und Autismus
Bisher wurde noch keine Einzelursache für Autismus gefunden. Wissenschaftler nehmen daher an, daß sowohl eine genetische Veranlagung als auch Umweltfaktoren (wie Viren oder Chemikalien) für die Krankheit verantwortlich sind. Die bei autistischen Patienten anzutreffenden Hirnstörungen deuten darauf hin, daß die Krankheit auftritt, wenn die normale Hirnentwicklung unterbrochen wird.
Das könnte geschehen, wenn eine in jungen Jahren auftretende Infektion mit einem Virus im Körper eine Immunreaktion hervorruft, die außer Kontrolle gerät. Der Körper produziert dann nicht nur Antikörper gegen das betreffende Virus, sondern auch gegen sich selbst, wodurch Gewebe und Organe geschädigt werden. Diese Autoimmunreaktion kommt bei Krankheiten wie dem Lupus vor, und einige Wissenschaftler gehen davon aus, daß eine ähnliche Reaktion auch die Hirnabnormitäten bei Autismuspatienten erklären kann.
Diesen möglichen Zusammenhang untersuchten die Forscher Vijendra Singh und Victor Yang vom College of Pharmacy der University of Michigan. Während ihrer Untersuchung von 48 autistischen Kindern sowie 34 gesunden Kindern und Erwachsenen bestimmten die Forscher die Konzentration von Antikörpern gegen zwei Viren im Blut: das Masernvirus und das menschliche Herpesvirus-6. Beide Viren stehen im Verdacht, an der Ausbildung verschiedener Autoimmunerkrankungen beteiligt zu sein.
Außerdem maßen die Wissenschaftler die Konzentrationen zweier Antikörper gegen Hirngewebe. Einer davon (Anti-MBP) greift das Myelin-Basisprotein an – ein Protein, das in den Schichten um die Nervenfasern des Gehirns anzutreffen ist. Der andere Antikörper, Anti-NAFP, richtet sich gegen das Neuron-Axon-Filament-Protein, aus dem die Nervenfasern selbst bestehen.
Wie die Wissenschaftler erwartet hatten, war die Menge der Antikörper gegen Viren bei den autistischen und gesunden Untersuchungspersonen im wesentlichen gleich. Die meisten der autistischen Kinder, in deren Blut Antikörper gegen Viren zu finden waren, hatten auch Autoantikörper gegen eigenes Hirngewebe. Je höher der Spiegel der Virus-Antikörper war, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, daß sich im Blut des betreffenden autistischen Kindes auch Gehirn-Autoantikörper befanden (Clinical Immunology and Immunopathology, Ausgabe vom Oktober 1998). Dagegen hatte keine der nicht-autistischen Kontrollpersonen Autoantikörper im Blut.
Am stärksten war die Verbindung zwischen Antikörpern gegen das Masernvirus und Anti-MBP bei den autistischen Kindern. Daraus folgert Singh, daß der Masernerreger eine Autoimmunreaktion auslösen kann, die sich auf die Entwicklung des Myelins auswirkt. Wenn sich das Myelin im Hirn nicht richtig entwickelt, können die Nervenzellen nicht korrekt arbeiten. Auf diese Weise bestünde ein Zusammenhang zwischen den Abnormalitäten im Gehirn und den Symptomen des Autismus.
Die Frage, wie die Kinder dem Masernvirus ausgesetzt werden, berührt ein kontroverses Thema. Die Eltern von autistischen Kindern berichten oft, daß die ersten Zeichen einer Störung kurz nach einer Masern-Mumps-Röteln- oder Diphtherie-Keuchhusten-Tetanus-Impfung auftraten. Doch bisher hat keine wissenschaftliche Studie eine Verbindung zwischen den Impfungen und dem Autismus nachgewiesen. Die von Singh und Yang untersuchten Personen hatten fast alle eine Masern-Mumps-Röteln-Immunisierung erhalten, und keiner von ihnen war jemals an Masern erkrankt. Es ist allerdings möglich, daß einige sehr wohl mit dem Masernvirus infiziert worden waren, ohne jedoch die Symptome der Krankheit zu entwickeln, bemerkt Singh.
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