News: 'Ich kann doch nicht hellsehen'
"Es ist erschreckend", so Grassmann, "wie wenig es Schülern, aber auch Erwachsenen gelingt, im Unterricht gelernte Inhalte in angemessener Weise auf Realsituationen zu beziehen." Dabei würden die Kinder solche Aufgaben im Leben außerhalb der Schule als unrealistisch zurückweisen. Nur selten erhielt Grassmann Antworten wie "Ich kann doch nicht hellsehen" auf eine "Kapitänsaufgabe".
In der Befragung von Schülern zeigte sich deutlich, daß Kinder bei Schuleintritt noch recht kritisch an die ihnen gestellten Aufgaben herangehen. Doch in der dritten und vierten Klasse werden dann vermehrt Fehllösungen produziert. Fehllösungen, die erst durch den Mathematik-Unterricht anerzogen wurden. In keinem anderen Schulfach lasse sich, so die Mathematik-Didaktikerin, eine so deutliche Diskrepanz zwischen den Erfahrungen, die die Schüler innerhalb und außerhalb des Unterrichtes machen, feststellen.
So sieht es Grassmann als vordringliche Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer an, die Fähigkeiten, die die Kinder außerhalb der Schule zeigen, im Unterricht zu berücksichtigen und die abstrakten Zahlenwerte und -operationen mit praktischen Erfahrungen zu verknüpfen. "Wir können nicht sagen, wie jede Sekunde des Unterrichts aussehen soll, wir können nur aufzeigen, wie Kinder lernen." Dazu hat sie mit Hilfe von Kollegen aus Potsdam und Berlin untersucht, welches mathematische Vorwissen die Kinder in die Schule mitbringen. Dabei zeigte sich beispielsweise, das viele bereits bei Schuleintritt bis 20 zählen können – eine Tatsache, die das im Lehrplan vorgeschriebene schrittweise Erlernen der Zahlen ad absurdum führe.
Ein weiteres Problem sind die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder und die große Uneinheitlichkeit von Klassen auch innerhalb einer Schule. Da müsse man die Freiheit geben, daß die eine fünf Aufgaben rechne, während der andere nur zwei Aufgaben in derselben Zeit löse.
Eine konkrete Handlungsanweisung kann Grassmann geben: "Es ist wichtig, daß die Kinder Zeit und Aufmunterung bekommen, ihre eigenen Lösungsstrategien zu entwickeln und nicht nur denen zu folgen, die vom Lehrer vorgegeben werden." Die Lösungen seien dann zwar nicht immer korrekt, aber in der Diskussion über diese Lösungen lernten die Schüler von anderen Schülern mehr als von der Lehrerin. "Es ist schwierig, den Kindern eigene Wege zu erlauben", weiß Grassmann, denn diese Wege könnten ja auch in die Irre führen. "Aber am überzeugendsten ist es, wenn wir den Lehrerinnen und Lehrern zeigen können, daß die Kinder die Fähigkeit zur Problemlösung bereits haben."
Wenn die Kinder selber nach Lösungen zum Beispiel von Textaufgaben suchen, tun sie dies mit Hilfe von Erfahrungen, die sie im Leben sammeln. Kinder müssen sich zu den Begriffen, die sie in der Mathematik lernen, ein Bild machen können, es dürfen nicht nur abstrakte Zeichen bleiben: "Sonst bleibt die Mathematik neben dem Leben stehen", so Grassmann.
Siehe auch
- Spektrum der Wissenschaft 1/99, Seite 108
"TIMSS und die Lehren" - Spektrum Brennpunkt-Thema vom 02. März 1998
"Physik drei, Mathe vier"
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