News: Kunst macht sprachlos? Nein, umgekehrt!
Seit Jahrzehnten gingen die Archäologen davon aus, daß Höhlenkünstler intelligent und kommunikativ waren. Diese Ansicht verfestigte sich, nachdem 1994 in den Höhlen von Chauvet in Südost-Frankreich spektakuläre, 31 000 Jahre alte Felsenkunst entdeckt worden war. Die Gewandtheit und der Realismus der dort dargestellten Tierfiguren schien zu beweisen, daß die Menschen jener Zeit die Sprache und weitere mentale Fähigkeiten für eine anspruchsvolle Maltechnik entwickelt hatten.
Humphrey aber fand außergewöhnliche Ähnlichkeiten zwischen den Zeichnungen des autistischen Mädchens Nadia, das 1967 in Nottingham geboren wurde, und den Höhlenzeichungen von Lascaux und Chauvet in Frankreich. Trotz größter Lernschwierigkeiten zeichnete Nadia ab dem Alter von drei Jahren Bilder von verblüffendem Realismus.
Humphrey wurde auf Nadia und ihre künstlerischen Fähigkeiten durch ein Buch der britischen Psychologin Lorna Selfe aufmerksam, das 1977 unter dem Titel "Nadia: a case of extraordinary drawing ability in an autistic child" erschienen war. Die im Buch dargestellten Zeichnungen der Pferde, Kühe und Elefanten erinnerten Humphrey an die von Höhlenkünstlern gemalten Pferde, Bisons und Mammute. Seiner Meinung nach sind beide Gruppen von Bildern eindrucksvoll in Realismus und Perspektive. Bei beiden wurden die Tiere in der Bewegung eingefangen und die Körperkonturen durch Linien dargestellt. Die Höhlenkünstler malten oft Tiere willkürlich übereinander – so wie Nadia auch, aber in ihrem Fall könnte das lediglich ihren Autismus widerspiegeln, meint Humphrey. Im Gegensatz zu normalen Kindern fällt es autistischen Kindern oft leichter, sich mitten in chaotischen Szenen auf Details zu konzentrieren und versteckte Gegenstände wahrzunehmen.
Humphrey glaubt, daß das künstlerische Talent sowohl bei den Höhlenkünstlern als auch bei Nadia nicht trotz, sondern wegen ihrer mentalen Defekte aufblühte. Nadias zeichnerische Fähigkeiten schienen im Alter zwischen drei und sechs ihren Höhepunkt zu erreichen, als sie so gut wie keine Sprache besaß und für konzeptuelle Zusammenhänge zwischen Gegenständen blind zu sein schien. Für sie stellten ein Sessel und ein Liegestuhl zwei gänzlich unterschiedliche Arten von Gegenständen dar. Selfe glaubte, daß Nadia die sie umgebenden Objekte eben nicht benannte, visualisierte und dann unter dem Wort Stuhl oder Pferd abspeicherte, sondern daß Nadia sich nur des rohen visuellen Eindrucks eines erschaffenen Objekts bewußt war und daß dies ihre Kunst inspiriert habe. Als Nadia mit ungefähr zwölf Jahren schließlich ein praktisches Vokabular erwarb, gingen ihre Fähigkeiten allmählich zu Ende.
Humphrey glaubt, daß den Höhlenkünstlern ein ähnliches Schicksal widerfuhr: "Vor 20 000 Jahren entwickelten Menschen die Fähigkeit, anderen Menschen – nicht jedoch Tieren, Pflanzen oder Werkzeugen – einen Namen zu geben und über sie zu reden. Als sich die Sprache schließlich so weit entwickelt hatte, daß Dinge miteinbezogen werden konnten, litt ihre Kunst darunter – wie die gestelzten und formalistischen Bilder gegen Ende der letzten Eiszeit vor 11 000 Jahren belegen. Der Verlust des naturalistischen Malens war der Preis für das Aufdämmern der Poesie."
Diese Theorie ist allerdings heftig umstritten und wird daher im Cambridge Archaeological Journal zusammen mit einem Sperrfeuer der Kritik von Experten veröffentlicht. Nach Ansicht des Archäologen Steven Mithen von der University of Reading ist das Hauptproblem, daß mentale Fähigkeiten wie die Sprache sich wahrscheinlich nicht später als vor 100 000 Jahren entwickelt haben. Er bezweifelt, daß ein Geist, dem moderne konzeptuelle Fähigkeiten fehlten, die komplexen geometrischen Formen und andere abstrakte Bilder, die man in Steinzeitkunst oft findet, hervorbringen konnte.
Uta Frith, Psychologin am University College London, stimmt mit Humphrey in einem Punkt überein: Es sei ein Fehler, die Höhlenmalereien als Beweis zu sehen, daß die damaligen Künstler Gehirne wie wir besaßen. Sie bezweifelt jedoch, daß unsere Vorfahren hunderttausend Jahre überlebt hätten, ohne die Möglichkeit, darüber zu reden, wo man Nahrung findet und wie man ein Werkzeug herstellt. Eine derartige Kommunikation stelle doch einen enormen adaptiven Wert dar. Sie fügt hinzu: "Viele Kinder besitzen keine Sprache. Es sind jedoch nur sehr wenige in der Lage, so zu zeichnen wie Nadia. Ein Mangel an Sprache erzeugt also nicht automatisch große Kunst."
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