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News: Eine molekulare Baumaschine

Das menschliche Erbgut, die DNA, liegt im Zellkern in hochorganisierter, kompakter Form vor. Ein Forscherteam des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg hat das entscheidende Bauteil der Maschinerie entdeckt, mit der die Zelle ihre DNA umorganisiert. Ein einzelnes Protein ist in der Lage, diese Vorgänge im Wesentlichen voranzutreiben.
Seit in den Fünfziger Jahren James Watson und Francis Crick die Molekülstruktur der DNA entschlüsselt haben, hat das Bild der eindrucksvoll gewundenen Doppelhelix den Status eines kulturellen Symbols erreicht. In lebenden Zellen jedoch liegt die DNA keineswegs isoliert und in langgestreckter Form vor; vielmehr ist sie um Protein-Spulen, die sogenannten Nucleosomen, gewunden, mit denen sie dann zu unvorstellbar kompakten Strukturen verdichtet wird – geradeso als würde man ein sehr dünnes, 20 Kilometer langes Gummiband so lange verwinden, bis es zu einem erbsengroßen Knoten zusammenschnurrt. Im völlig ausgestreckten Zustand hätte die DNA einer einzelnen Zelle eine Länge von etwa zwei Metern; und doch beträgt zu manchen Zeiten die Gesamtlänge aller 46 Chromosomen im Zellkern nur ein Millionstel dieses Wertes. Die hochorganisierte, kompakte Form der DNA und der an sie gebundenen Proteine wird als Chromatin bezeichnet.

Wissenschaftler am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg haben jetzt einen wichtigen Fortschritt erzielt, um die "Maschinerie" zu verstehen, mit der die Zelle den Zustand ihres Chromatins verändert.

"Die Verpackung von DNA in Chromatin hat eine wichtige Aufgabe beim Speichern von genetischer Information", sagt Peter Becker vom EMBL. "Genau wie man das Buch, das man gerade liest, auf seinem Nachttisch liegen hat und die Bedienungsanleitung des Computers auf einem Regal in der Nähe – im Notfall mit einem Handgriff zu erreichen – und die alten Schulbücher in einem Koffer im Keller, so hält auch die Zelle ihre Gene in unterschiedlichen Graden von Bereitschaft. Gene, deren Aktivität sie ständig benötigt oder die sie in Notfällen schnell mobilisieren können muß, werden verfügbar gehalten, während Informationen, die in einer bestimmten Zelle nicht genutzt werden, unter Verschluß bleiben."

Zwar mag sich Chromatin im Laufe der Evolution entwickelt haben, um riesige Mengen genetischen Materials in einem winzigen Zellkern unterzubringen, es dient aber auch dem Zweck, DNA-Sequenzen bis zu dem exakten Zeitpunkt verschlossen zu halten, an dem sie gebraucht werden. Indem Zellen ihre DNA um Nucleosomen schnüren und verstauen, verhindern sie, daß ihre Gene mit anderen Molekülen in Dialog treten. So durchkreuzen einige Proteine den Zellkern auf der Suche nach Zielmustern im Code der DNA, an die sie binden können, um Gene zu aktivieren. Dies führt dann zur Produktion von RNA-Molekülen, mit deren Hilfe die Zelle neue Proteine herstellen kann. Weil aber die Zusammenstellung der Proteine in einer Zelle über deren Form und Verhalten entscheidet – wie auch über ihre Entwicklung zu einem bestimmten Zelltyp –, muß die Zugänglichkeit der Gene sorgfältig reguliert werden. Unterschiedliche Gene müssen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben der Zelle aktiv sein; so ist die aktive Umgestaltung von Chromatin ein ständig stattfindender Prozeß.

Praktisch jedesmal wenn DNA repariert, kopiert oder in RNA übersetzt wird, werden Nucleosomen verschoben, um wichtige Sequenzen im DNA-Code freizugeben, ein Vorgang, bei dem besondere zelluläre Mechanismen am Werk sein müssen. Erst in jüngerer Zeit haben Wissenschaftler eine Reihe von "Multi-Protein-Maschinen" entdeckt, die in der Lage sind, Chromatin zu reorganisieren. Im Jahr 1997 fand Peter Beckers Gruppe eine dieser Maschinen: CHRAC (CHRomatin Accessibility Complex). Der CHRAC-Komplex war in der Lage, die Wechselwirkungen der DNA mit den Nucleosomenspulen so zu beeinflussen, daß die Spulen entlang des DNA-Strangs verschoben wurden. Was nicht bekannt war, war die Art und Weise, in der CHRAC dies bewerkstelligte: Welche Rolle spielten die einzelnen Proteine in dem Komplex dabei?

Im letzten Jahr dann gelang es Davide Corona, einem Mitglied aus Beckers Gruppe, einen wichtigen Durchbruch zu erzielen, der eine gänzlich neue Vorstellung von diesen Maschinen ermöglichte. Corona interessierte sich für ein Protein namens ISWI, das ein Bestandteil von CHRAC wie auch von anderen Chromatin-Umbaumaschinen ist. Es war bekannt, daß das ISWI-Protein sehr nahe Verwandte in einem breiten Spektrum von Organismen besaß, das von Hefezellen bis zum Menschen reichte. Die Erhaltung eines Proteins in evolutionär weit auseinanderliegenden Lebewesen ist oft ein Hinweis darauf, daß das Protein eine Rolle in einem entscheidend wichtigen zellulären Vorgang spielt. In biochemischen Experimenten mit ISWI hätte sich diese Rolle wohl herausfinden lassen – allerdings erst wenn es gelänge, Laborbakterien genetisch so zu verändern, daß sie das Protein in Milliarden von identischen Kopien herstellten.

"Das war vorher schon versucht worden, allerdings ohne Erfolg", erklärt Davide Corona. "Jedesmal wenn irgendjemand ISWI auf diese Weise herstellte, bekam er eine Form des Proteins heraus, die sich nicht so verhielt, wie sie das eigentlich in Zellen tun sollte. Die Forscher dachten daher, daß sie das funktionierende Protein nur dann bekommen könnten, wenn sie es zusammen mit den anderen Bestandteilen der Maschine herstellten."

Corona schaffte es scließlich, ISWI in reiner Form zu gewinnen. Ihm gelang die Synthese eines voll funktionellen Proteins. Die Untersuchung der inneren Dynamik eines Chromatin-Umbaukomplexes brachte überraschende Ergebnisse: "Weil alle bekannten Chromatin-Umbaumaschinen aus mehreren Proteinen aufgebaut waren, nahm jeder an, daß die Reorganisation von Chromatin kompliziert sein müßte – daß eine Kooperation von ISWI und all seinen Partnerproteinen nötig sein würde", erläutert Peter Becker. "Wie sich herausstellte, ist das nicht der Fall. ISWI kann eine Vielzahl von Änderungen in der Chromatinstruktur ganz allein bewerkstelligen. Es ist sozusagen der molekulare Motor, der die Umbauaktivitäten von CHRAC und mehreren anderen Maschinen antreibt."

Gernot Längst vom EMBL hatte eine Reihe von hochpräzisen biochemischen Experimenten entworfen, mit denen sich die verschiedenen Stadien der Reorganisation von Chromatin beobachten ließen. Einer dieser Tests hatte gezeigt, daß Umbaumaschinen den zellulären "Brennstoff" ATP verbrauchten, während sie anderen Proteinen halfen, ihre Ziele in der DNA zu finden. In einem anderen Experiment zeigte sich, daß CHRAC Nucleosomen auf der DNA entlangbewegen konnte. Als Längst diese Tests mit ISWI alleine wiederholte, war dieses in der Lage, die notwendigen Veränderungen in der Chromatinstruktur vorzunehmen – und das ohne jegliche Hilfe von anderen Proteinen.

Mit einem dritten Experiment konnte Längsts Kollege Cedric Clapier nachweisen, daß ISWI den Nucleosomenspulen dabei half, bestimmte Positionen entlang eines DNA-Moleküls einzunehmen. "Die Komponenten, aus denen die Nucleosomen bestehen, fügen sich sehr schnell zusammen, und anfangs passiert das an so ziemlich jeder beliebigen Stelle in der DNA", sagt Davide Corona. "Anschließend geschieht es, daß sie sich mehr oder weniger gleichmäßig daran verteilen, und ISWI hilft ihnen, an diese Positionen zu gelangen."

Diese Struktur aus DNA, die sich um Nucleosomen wickelt, ist jedoch ständiger Veränderung unterworfen. Nur eine kleine Verschiebung einer der Spulen könnte bereits ausreichen, um ein genetisches Ziel aufzudecken; nachdem dann RNA hergestellt worden wäre, könnte die Spule zurückgeschoben werden – wie die winzige Bewegung eines Drehschalters, mit dem man ein Radio ein- und wieder ausschaltet. Wenn eine Zelle beschließt, daß ein bestimmtes Gen ein- oder ausgeschaltet werden soll, dann ist es oft ISWI, das den Schalter herumdreht. Und das passiert in der Zelle pausenlos.

"Das genetische Material ist in einem ständig vibrierenden, dynamischen Zustand", faßt Peter Becker zusammen. "Diese Experimente geben uns eine fundamental neue Sicht auf den Zellkern: eine Struktur, die zwar verpackt, gleichzeitig aber auch transparent ist."

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