News: Autismus-Therapie aus dem Bauch
Unter dem Begriff Autismus werden eine Reihe von Syndromen zusammengefaßt, die sich alle vor dem dritten Lebensjahr manifestieren und schwere Beeinträchtigungen zwischenmenschlicher Beziehungen mit sich bringen. Hinzu kommt ein deutlich eingeschränktes Repertoire an Aktivitäten und Interessen sowie Kommunikationsstörungen – nur die Hälfte der autistischen Kinder lernt jemals sprechen. Viele Patienten entwickeln selbststimulierende Tätigkeiten, die von monotonen Pendelbewegungen bis hin zu Selbstverletzungen – beispielsweise durch Haareausreißen oder Kopfanschlagen – reichen.
Da die Gründe für eine autistische Störung noch nicht eindeutig bestimmt wurden, ist es schwierig, wirkungsvolle Therapien zu entwickeln. Einige medikamentöse Behandlungen vermögen einzelne der Probleme zu lindern, und in manchen Fällen erzielen ausdauernde Verhaltenstherapien positive Resultate. Dabei muß jedoch jeder kleine Fortschritt mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen erarbeitet werden, denn obwohl die intellektuelle Begabung von Menschen mit Autismus vom Grade geistiger Behinderung bis zu normaler Intelligenz reicht, erkennen die Kinder nur schwer den Zusammenhang zwischen einem Verhaltensmuster und seinen Folgen, beispielsweise einer Belohnung.
Wie viele andere autistische Kinder auch litt Parker an Durchfall und Erbrechen. Seine Eltern brachten ihn zur Untersuchung in die University of Maryland. Dort wurde ihm zur Überprüfung der Pankreasfunktion eine geringe Menge des Hormons Sekretin injiziert. Sekretin kommt in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), der Leber sowie dem Zwölffingerdarm vor und kann sogar im Gehirn nachgewiesen werden. Es erhöht die Sekretion von Wasser und Bicarbonat in den Darm, wodurch es der Säuregehalt des Nahrungsbreies senkt und die Aktivität der Verdauungsenzyme ermöglicht.
Die Untersuchung erbrachte zwar keinen Aufschluß über die Ursachen des Durchfalls. Aber wenige Tage nach den Tests stellten Parkers Eltern erstaunliche Veränderungen im Verhalten ihres Kindes fest: Zum ersten Mal seit zwei Jahren schlief der Junge die ganze Nacht durch. Mehr noch, er fing an zu sprechen. Ermutigt durch diese unverhoffte Besserung suchten Victoria und Gary Beck nach dem entscheidenden Auslöser. Sie fanden ihn schließlich in dem Sekretin.
Das Hormon ist von der US Food and Drug Administration (FDA) lediglich zu diagnostischen Zwecken, nicht aber zur Therapie zugelassen, so daß die Forschung bisher nur zögerlich in Schwung kam. Lediglich eine einzige wissenschaftliche Arbeit von Karoly Horvath von der University of Maryland liegt bislang vor, in welcher der Kinderarzt die Wirkung von Sekretin auf die sozialen und sprachlichen Fähigkeiten von Parker und zwei weiteren Kindern beschreibt (Journal of the Association for Academic Minority Physicians vom Januar 1998, Abstract). Innerhalb von fünf Wochen besserten sich bei allen drei Patienten die Symptome.
Als Victoria Beck die Geschichte ihres Sohnes in den Medien verbreitete, trat sie eine Lawine bei den Eltern autistischer Kinder los. Innerhalb von zehn Tagen war bei der Sekretin-produzierenden Firma das Hormon ausverkauft. In den ganzen USA fanden sich Ärzte, die trotz der fehlenden Erfahrung die Autisten damit therapierten.
Bernard Rimland, der Direktor des Autism Research Institute, versucht mit einem standardisierten Fragebogen ihre Erfahrungen zu sammeln. Aus den rund 200 bislang eingegangenen Antworten und weiteren mündlichen Berichten zieht er eine Zwischenbilanz. Danach profitieren ungefähr drei Viertel aller autistischen Kinder, die eine oder mehrere Sekretinbehandlungen erfahren haben, von der Therapie. Sie schlafen besser, nehmen Augenkontakt mit anderen Personen auf, beginnen zu reden, zeigen eine erhöhte Aufmerksamkeit und haben weniger Verdauungsstörungen. Das Ausmaß des Erfolges ist allerdings von Fall zu Fall unterschiedlich, ohne daß sich sagen ließe, welche Faktoren sich günstig auswirken und welche hinderlich sind. Etwa ein Drittel der Kinder reagierte einige Tage oder Wochen nach der Sekretininfusion mit Hyperaktivität oder Aggression. Ernstzunehmende Schwierigkeiten gab es jedoch nur selten. Außerdem sind derartige Phasen bei autistischen Kindern auch ohne Gabe von Sekretin durchaus normal. Aus Ermangelung einer Kontrollgruppe läßt sich darum nicht sagen, ob die Verhaltensstörungen eine Folge der Therapie sind.
Kalle Reichelt vom Pediatric Research Institute in Oslo, der selber keine Versuche mit Sekretin durchführt, warnt vor den möglichen Risiken einer Dauerbehandlung. Er weist darauf hin, daß das Peptid Sekretin bislang aus Schweinen gewonnen wird. Dessen Aminosäuresequenz unterscheidet sich durch zwei Aminosäuren von dem menschlichen Hormon. Es ist denkbar, daß der Körper bei wiederholter Gabe Antikörper gegen das tierische Präparat bildet, die dann auch mit dem Sekretin des Patienten reagieren könnten. Als Folge hätten die Kinder dann einen niedrigeren anstelle des erwünschten höheren Sekretinspiegels. Dieses Risiko dürfte mit der Verwendung menschlichen Hormons beigelegt sein. Die Firma Goldham Bioglan Pharma GmbH plant, vollsynthetisches menschliches Sekretin in Deutschland zu produzieren – allerdings bislang nur zu diagnostischen Zwecken.
Um die vielen drängenden offenen Fragen zu klären, werden derzeit mindestens vier wissenschaftliche Studien unternommen. Sie sollen klären, ob die Wirkung von Sekretin auf spektakuläre Einzelfälle beschränkt bleibt, wie eine Therapie anzulegen und durchzuführen ist und wer für eine Behandlung mit dem Hormon geeignet ist. Nebenbei werden andere Darreichungsformen als die momentan verwandte Infusion getestet, zum Beispiel als Bonbon oder Salbe.
Wieso Sekretin überhaupt einen Effekt hat, können die Wissenschaftler noch nicht beantworten. Laut Stephen M. Edelson vom Center for the Study of Autism gibt es die Hypothese, daß die Nahrung bei autistischen Kindern durch Sekretin besser verstoffwechselt wird. Das Gehirn würde in diesem Fall besser mit Nährstoffen versorgt und gleichzeitig vor schädigenden Substanzen geschützt. Seiner Meinung nach ist aber auch möglich, daß Sekretin die Produktion von Serotonin im Gehirn fördert. Dieser Neurotransmitter ist an zahlreichen Funktionen des zentralen Nervensystems beteiligt und kommt bei Autisten zum Teil in zu niedrigen Konzentrationen vor.
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.