News: Molekularbiologen sägen am Stammbaum der Tierwelt
Die am 24. Juni 1999 in Nature veröffentlichten Ergebnisse einer internationalen Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftler sägen am Stamm des gesamten Baumes. "Im Grunde zeichnen wir den Baum neu", sagt Jennifer Grenier vom Howard Hughes Medical Instituteder University of Wisconsin-Madison. Die Arbeit bekräftigt frühere Ergebnisse von genetischen Untersuchungen, wonach die große Mehrheit der Tiere – von der Auster bis zum Menschen – zu einer von drei grundlegenden Abstammungslinien gehören. Bisher wurde anhand der Morphologie davon ausgegangen, daß es viele Hauptäste gibt.
Die Wissenschaftler stützen ihre Neuordnung des Stammbaums auf eine Gruppe von Genen, die zur Familie der sogenannten Hox-Gene gehören. Sie steuern die Anordnung und Entwicklung von Organen und Extremitäten. Zum Beispiel ist das Hox-Gen Ubx dafür verantwortlich, daß einer Taufliege nur ein paar Flügel wächst anstatt zwei wie bei einer Libelle. Mutationen in Hox-Genen bewirken schwere Anomalien.
Hox-Gene sind allgegenwärtig, und sie sind sehr gut konserviert, das heißt sie haben sich im Laufe der Evolution nur wenig verändert. Sie sind damit gut geeignet, die Evolution und die Verwandtschaftsverhältnisse von Lebewesen zu untersuchen – eng verwandte Organismen haben auch eine sehr ähnliche Ausstattung an Hox-Genen, während weiter verwandte Arten Unterschiede aufweisen. Grenier und ihr Mitarbeiter Carroll sequenzierten die Hox-Gene von ursprünglichen Tiergruppen, um zum einen Verwandtschaftsbeziehungen zu klären. Zum anderen hofften sie, damit herauszufinden, welche Gene denn der gemeinsame Vorfahre aufwies.
Aus dem Projekt wurde schnell eine internationale Zusammenarbeit, an der mehrere Labors beteiligt waren. Grenier und Carroll entschlüsselten die Hox-Gene eines Priapuliden – eines relativ unbekannten marinen Wurms mit rätselhafter Abstammung, der aussieht wie ein kleiner matschiger Staubwedel. Forscher an der Université Paris-Sud untersuchten die Hox-Gene eines Brachiopoden oder Armfüßers – eines ebenfalls marinen Tieres, das an eine Muschel erinnert. Wissenschaftler an der Cambridge University arbeiteten mit Polychaeten oder Borstenwürmern – marinen Verwandten der Regenwürmer und Egel. Die Forscher verglichen das Sortiment der Hox-Gene der drei untersuchten Arten mit denen, die in früheren Untersuchungen unter anderem an Mäusen, Taufliegen, Egeln und Seeigeln gefunden wurden. Die Ergebnisse bestätigten die Auftrennung des Tierreichs in drei primäre Abstammungslinien.
Der von ihnen neu konstruierte Stammbaum faßt die Wirbeltiere im selben Ast mit den Seesternen und ihren Verwandten zusammen – eine Einteilung, die schon lange besteht und auf Ähnlichkeiten in der Entwicklung beruht. Fast alle anderen Tiergruppen werden jedoch neu organisiert. Tiere, die sich im Laufe ihrer Entwicklung häuten – wie Krebstiere, Insekten, Rundwürmer und Priapuliden – werden nun in einen eigenen zweiten Ast gestellt. Der dritte Ast beinhaltet Brachiopoden, Regenwürmer, Borstenwürmer, Weichtiere – also Schnecken und Muscheln – und Plattwürmer. Jeder von ihnen hat entweder federartige Mundwerkzeuge oder ein spezielles Larvenstadium.
Bisher umfaßt der "genetische" Stammbaum nur Tiere mit bilateraler Symmetrie, also einem spiegelbildlichen Aufbau. Die Daten zu Quallen und Schwämmen, die radialsymmetrisch – also wie ein Reifen aufgebaut sind – weisen noch zu viele Lücken auf und sind schwer zu interpretieren, sagt Grenier.
Die neuen Erkenntnisse unterstützen nicht nur die Vorstellung eines dreigeteilten Stammbaums des Tierreiches. Nach Carroll stellt sich außerdem die Frage, wie hochentwickelt die Lebewesen vor 600 Millionen Jahren bereits waren. Die Ergebnisse deuten an, daß die Vorfahren der Tiergruppen deutlich mehr Hox-Gene besaßen als bisher angenommen. "Dieses Potential, die Entwicklung zu kontrollieren, läßt schließen, daß der gemeinsame Vorfahre selbst ein hochentwickeltes Tier gewesen sein mag", sagt Carroll.
Ihre Ergebnisse könnten große Auswirkungen auf Evolutionsforschung haben, vermuten die Wissenschaftler. Zum Beispiel müßte die Auswahl der Modellorganismen gegebenenfalls überdacht werden. Außerdem sollten sich auch Veränderungen in der Lehre ergeben. "Allein um zu bekräftigen, daß das Verständnis der evolutionären Zusammenhänge ein fortlaufender Prozeß ist", sagt Grenier.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 15.1.1999
"Wie die Schlange ihre Beine verlor "
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