News: Eine Vorahnung der Leseschwäche
Molfese und seine Kollegen brachten in ihrer Studie Elektroden an den Köpfen von 186 Babys an, die etwa 36 Stunden alt waren. Während die Forscher Aufnahmen von sprachlichen und nichtsprachlichen Geräusche vorspielten, nahmen sie das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Gehirnwellenreaktionen der Neugeborenen auf. In den folgenden Jahren unterzogen sie die Kinder in zweijährigen Abständen bis zum Alter von acht Jahren eines Intelligenz- und eines Verständnistests. Dann identifizierten sie die normalen, schlechten und dyslektischen Leser unter den Kindern.
Nachdem die Wissenschaftler die Gehirnwellen der Neugeborenen anschließend in diese drei Gruppen einteilten und miteinander verglichen, konnten sie einige charakteristische Unterschiede zwischen dyslektischen und den besseren Lesern feststellen. Solche Unterschiede könnten durch Schädigungen bestimmter Nerven im fötalen Gehirn entstehen. Wie Molfese auf einem Symposium zum Thema Dyslexie am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nimwegen, Niederlande, berichten wird, konnten 22 von 24 dyslektischen Kinder anhand dieser Unterschiede kurz nach der Geburt erkannt werden. Damit wäre eine Möglichkeit für frühere geeignete erzieherische Maßnahmen gegeben gewesen.
Allerdings wären dann auch einige Kinder, die sich normal entwickelten, solchen Eingriffen unterzogen worden. Zum Vergleich wählte Molfese 24 Kinder aus der Gruppe der Normalleser aus, die den dyslektischen Kinder in Bezug auf Intelligenzquotient und anderen Fähigkeiten gleichkommen. Bei Geburt zeigten fünf dieser Kinder Gehirnwellenmuster, die denen der dyslektischen Kinder ähnelten.
Rod Nicholson, ein Dyslexie-Experte von der University of Sheffield, befürchtet, daß solche Fehldiagnosen unnötige Belastungen für Kinder und ihre Eltern bedeuten könnten. Trotzdem ist er der Ansicht, daß die Methode besser beurteilen läßt, wenn die Kinder aufgrund ihrer Gehirnwellen nach der Geburt eingeteilt werden und nicht nachdem sich ihre Leseschwierigkeiten entwickelt haben.
Auch wenn sich die Hirnwellenmethode als zuverlässig erweisen sollte, bleibt die Frage, wie möglicherweise dyslektische Kinder behandelt werden sollten, immer noch kontrovers. Molfese sagt, daß Kleinkinder, bei denen der Test positiv ausfällt, ein spezielles Hörgerät tragen könnten, das die Unterschiede zwischen Sprachklängen verstärkt. Einige Forschungen weisen darauf hin, daß Dyslexie sich aufgrund von frühen Hörschwächen entwickelt. Dem widerspricht Nicholson. Seiner Ansicht nach, könnte eine Einmischung in die normalen Hörfähigkeiten die Aneignung von Sprache bei Kindern verlangsamen. Eine weniger risikoreiche Lösung wäre es, die Hörschwierigkeiten festzustellen und das Kleinkind vermehrt gesprochener Sprache auszusetzen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 9.6.1999
"Wenn einem Hören und Lesen vergeht"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 4.3.1998
"Warum das Lesen so schwer fällt"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 1/97, Seite 30
"Legasthenie gestörte Lautverarbeitung"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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