News: Mensch und Umwelt im Odergebiet
Lange Zeit geschah die archäologische Beschäftigung mit der Beziehung von Mensch und Natur aus einem einseitigen Blickwinkel. Wie und in welchem Ausmaß ist der Mensch von der Natur abhängig? Wie reagiert er auf die "natürlichen Vorgaben"? Welche Böden sucht er auf? Wie ist sein Verhältnis zum lebensnotwendigen Wasser oder zum Wald? – das waren die Fragen, die man stellte. Dabei wurde meist die Natur als konstante Größe angesehen. Die moderne Umweltarchäologie hat demgegenüber erkannt, daß in der Regel die natürliche Umwelt bereits durch den Eingriff des Menschen erheblich verändert ist, etwa durch die Rodung von Wäldern, die zu Bodenerosion und Anstieg des Grundwasserspiegels führte. So wurden die gewaltigen Überschwemmungen der Oder im Jahr 1997, die in ganz Deutschland über die Medien mitverfolgt wurden, keineswegs von einer "natürlichen Natur" ausgelöst, sondern von der durch Menschen in Jahrtausenden umgestalteten Natur.
Und nicht nur unter wirtschaftlichen Erfordernissen (Landgewinnung zum Zweck des Ackerbaus und der Viehzucht) hat der Mensch in die Natur eingegriffen. Auch immaterielle Faktoren spielten eine Rolle, etwa wenn fruchtbare Naturräume durch Tabuisierung ("heiliger Hain") der wirtschaftlichen Nutzung entzogen wurden oder wenn der Natur für die Herstellung von Kultgegenständen große Metallmengen entnommen wurden.
Das Projekt des Deutschen Archäologischen Instituts bezog all diese Gesichtspunkte ein, ohne die traditionellen Fragestellungen zu vernachlässigen. Den Untersuchungsraum bildete ein etwa fünfzig Kilometer breiter Streifen beiderseits der Oder. Dabei bearbeiteten in der Regel deutsche und polnische Forschungsgruppen jeweils die Probleme in ihrem Land; andere Fragestellungen mußten übergreifend behandelt werden. Wichtigster Ausgangspunkt für die Forschungen ist die intensive Untersuchung von Siedlungskammern, einheitlich ausgestatteten Landschaften, die zumeist eine Fläche von zehn bis hundert Quadratkilometern einnehmen und in ur- und frühgeschichtlicher Zeit als Siedlungs- und Wirtschaftsräume mehrere Siedlungen umfassten.
Bei diesen Untersuchungen arbeiten Geologen und Geographen die Entwicklung des Klimas und die Entstehung der Landschaft heraus, Bodenkundler untersuchen speziell Vorgänge, die sich durch Bodenverlagerungen infolge Erosion ergaben und in extremen Fällen dazu führen konnten, daß Siedlungen aufgegeben werden mußten. Eine besondere Rolle spielt die Pollenanalyse, die es sich zunutze macht, daß sich die für die einzelnen Pflanzen gut zu unterscheidenden Pollen unter Luftabschluß, meist in den Ablagerungen stehender Gewässer, praktisch unbegrenzt halten. Mit Hilfe von Bohrkernen kann man Zeitscheiben erkennen, die den Wechsel der Vegetation darstellen.
Bei der Untersuchung einer Siedlungskammer im südöstlichen Vorpommern gaben in Lebehn und Schwennenz Getreidegruben der späten Bronzezeit (Anfang 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung) und der römischen Kaiserzeit (1. bis 4. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung) Aufschlüsse über die Ernährungssituation. Dabei wurden Weizen, Gerste, Rispenhirse, Erbse und, erstmals in Nordostdeutschland, Linse nachgewiesen. Die relativ große Zahl von Arten sicherte bei Mißernten einzelner Feldfrüchte einen gewissen Ausgleich. Die Gruben der römischen Kaiserzeit enthielten dagegen fast ausschließlich Gerste, was auf eine andere Anbaustrategie hinweist: Intensivierung durch Spezialisierung.
Weitere Untersuchungen zeigten, daß die Siedlungen jeweils von einer starken Flugsandschicht überdeckt waren, die auf die Einwirkung von Menschen zurückging. Bei der Erschließung der ursprünglich bewaldeten Landschaft war zunächst gerodet worden. Mit dem nachfolgenden Ackerbau setzten sofort Erosionsprozesse ein, durch die die Bodenkrume abtransportiert wurde. Allein dieser Effekt reichte aber nicht aus, um die Stärke der überlagerten Schichten zu erklären. Vielmehr müssen in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung zusätzlich katastrophenartige Starkregen gefallen sein.
Bei einer weiteren Grabung bei Glasow ließen sich diese Vorgänge sogar quantifizieren. Mitarbeitern des Zentrums für Agrarlandschaft und Landnutzungsforschung in Müncheberg gelangen die zeitlich differenziertesten Stoffbilanzierungen Mitteleuropas, die bis heute vorliegen. Durch archäologische, naturwissenschaftliche und historische Datierungen konnten die durchschnittlichen jährlichen Abtragungsraten bestimmt werden. Sie betrugen in den letzten 60 Jahren das 16fache des vorhergehenden Zeitraums. Ein solcher Wert hat durchaus aktuelle Bedeutungen für Fragen der zukünftigen Landnutzung.
Rätsel gab lange Zeit eine Siedlungskammer im Nordteil des Oderbruchs auf der "Neuenhagener Oderinsel" auf. Die ganze Insel, die von einem Altarm der Oder umflossen wird, ist von außerordentlich kargen Sandböden bedeckt. Um so erstaunlicher war es, daß hier zahlreiche Zeichen für eine starke Besiedlung gefunden wurden, unter anderem eine größere Zahl Gräberfelder der späten Bronze- und frühen Eisenzeit, Reste von Häusern und einer Kultstelle, Angelhaken und anderes Gerät, zum Beispiel für die Textilverarbeitung.
Unter modernem umweltarchäologischen Aspekt ergaben sich interessante Beobachtungen und Folgerungen. Zunächst wurde eine ältere Besiedlungsphase aus der Zeit um 2000 vor unserer Zeitrechnung nachgewiesen, die von einer starken Sandschicht überlagert war, auf der dann die Siedlung der frühen Eisenzeit errichtet wurde. Aus dieser Abfolge läßt sich ein Zyklus erschließen, der verallgemeinert werden kann: Auf eine Rodung des Waldes folgte eine intensive acker- und viehwirtschaftliche Nutzung, die wiederum so starke Erosionsvorgänge in Gang setzte, daß das gesamte Gelände von Sand überweht wurde und aufgegeben werden mußte. Erst nach tausend Jahren wurde es vom Menschen wieder aufgesucht, und das bedeutete eine erneute Rodung des inzwischen nachgewachsenen Waldes. Teile der Siedlung werden von einer bis zu sechzig Zentimeter dicken Schicht überlagert, die mit Scherben durchsetzt ist, also von Menschen aufgetragen wurde – der älteste Auftragsboden, der in Nordostdeutschland bisher entdeckt wurde.
Derartige Böden stellen eine Form der Düngung dar. Unter der Fragestellung Mensch/Umwelt handelt es sich um einen Akt bewußten Gegensteuerns gegen die Probleme der Natur – die allerdings durch frühere Eingriffe des Menschen heraufbeschworen wurden.
Die Fülle der Einzelergebnisse und der übergreifenden Einsichten, die das Projekt erbracht hat, lassen sich hier nicht einmal andeuten. Sie sind teilweise in einer selbstproduzierten Publikationsreihe "Beiträge zum Oderprojekt" dargestellt. Ein großer Abschlußband wird in absehbarer Zeit versuchen, die vielfältigen Einzelergebnisse zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Dabei werden weiterhin deutsche und polnische Wissenschaftler zusammenarbeiten, da grundlegende Fragestellungen nur "flussübergreifend" behandelt werden können. Als ein wichtiges Ergebnis der Arbeit, das auch für die meisten anderen Perioden der Ur- und Frühgeschichte gilt, ist schon jetzt festzuhalten, daß die Oder fast immer eine verbindende, nur selten eine trennende Funktion hatte.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 31.5.1999
"Schon die Neandertaler kämpften gegen das Hochwasser"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 27.5.1999
"Umweltschutz auf Lateinisch"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum der Wissenschaft 6/98, Seite 78
"Hochwasser – ein hausgemachtes Problem?"
(nur für Heft-Abonnenten online zugänglich)
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