News: Erste Fassung des menschlichen Genoms vorgestellt
Zehn Jahre nach seinem Start ist das Konsortium aus den USA, Großbritannien, Japan, Deutschland, Frankreich und China nun fast am Ziel: Mit einem enormen Aufwand gelang es ihm, den größten Teil der sich überlappenden DNA-Fragmente in die richtige Reihenfolge zu bringen und auch ihre Basensequenz zu bestimmen. Wie beteiligte Wissenschaftler auf parallelen Pressekonferenzen in Berlin, London und Washington am 26. Juni 2000 bekannt gaben, ist somit die Abfolge der fast drei Milliarden Basen – den Buchstaben – unserer Erbinformation zu über 85 Prozent bekannt. Allerdings noch nicht mit der vom Humangenomprojekt selbst veranschlagten Genauigkeit von 99,9 Prozent. Bis zum Jahre 2003 will das Konsortium aber die Sequenz lückenlos und bis auf 99,99 Prozent akkurat ermittelt haben. Was keine Schwierigkeit darstellen dürfte, wenn man bedenkt, dass die Forscher etwa 60 Prozent aller Daten im letzten halben Jahr gewinnen konnten.
Die Sequenzierung des menschlichen Genoms ist zwar ein "Meilenstein" in der Geschichte der Menschheit, aber wichtigere und vielsagendere Arbeiten stehen noch aus. Denn der Hauptteil – etwa 95 Prozent – unserer DNA enthält keine Information, und die gentragenden Bereiche und regulatorischen Elemente müssen erst identifiziert werden. Außerdem ist die Funktion und das Zusammenspiel der einzelnen Gene sowie die Aufgabe und Struktur der von ihnen codierten Proteine zu bestimmen.
Dennoch könnte die jetzt vorliegende "Blaupause" des menschlichen Genoms von immenser Bedeutung für die medizinische Diagnostik und Therapie sein. Die im Internet frei zugänglichen Daten können von allen Wissenschaftlern für ihre Forschungen herangezogen werden und eventuell der Identifizierung von krankheitsauslösenden Genen dienen. Bereits jetzt sind rund 4000 Erkrankungen bekannt, die auf Defekte in einem einzigen Gen zurückgehen und deren gentechnische Behandlung daher verhältnismäßig einfach erscheint.
Aber Wissenschaftler warnen vor zu viel Euphorie, denn zum einen ist die Gentherapie auch nach jahrelanger Arbeit noch nicht zu einem entscheidenden Fortschritt gekommen. Zum anderen wird auch der Großteil aller Krankheiten nicht von einem einzelnen Gendefekt verursacht, sondern ist multifaktoriell. An der Entwicklung von Krebs und Altersdiabetes sind zum Beispiel eine ganze Reihe von Genen und natürlich auch Umweltfaktoren beteiligt. An die Züchtung eines "perfekten Menschen", eine von vielen Menschen gehegte Angstvorstellung, ist daher gar nicht zu denken. Auch positive Eigenschaften wie Intelligenz oder etwa Schönheit sind so komplex und an ihrer Entstehung so viele Gene beteiligt, dass sie nicht durch einfache genetische Veränderungen angezüchtet werden könnten.
Dennoch ist es beruhigend zu hören, dass der amerikanische Präsident Bill Clinton und der per Videoübertragung zugeschaltete britische Premierminister Tony Blair auf der Pressekonferenz in Washington gemeinsam dazu aufriefen, das neue Wissen "weise zu nutzen" und die ethische Verantwortung niemals aus den Augen zu verlieren. Die neuen genetischen Kenntnisse dürften nicht dazu verwendet werden, Menschen zu diskriminieren oder zu brandmarken.
Dexter hält die Entschlüsselung des Genoms sogar für einen Schritt Richtung Menschlichkeit. Denn nun "können wir anfangen zu erkennen, was jedes Individuum einzigartig macht – aber auch, was vielleicht viel entscheidender ist, was uns alle gleich macht: Die Grundlage unseres Menschsein in der Doppelhelix der DNA." Vielleicht haben diese Worte die Mitglieder des Humangenomprojekts und der amerikanischen Forschungsfirma Celera Genomics versöhnlich gestimmt, denn die einstigen verbitterten Konkurrenten im Wettrennen um die Entschlüsselung des Genoms wollen in Zukunft zusammen arbeiten, bis das Erbgut des Menschen vollständig entziffert ist.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 9.5.2000
"Chromosom 21 entschlüsselt"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 10.4.2000
"Der (fast) vollständige Bauplan – für den Menschen"
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Brennpunkt-Thema vom 9.12.1999
"Keine Wunder, aber Fortschritte
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