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Adventskalender: Der Stein der fünf Zeitalter

Türchen 17

Baustellenlärm erfüllte Ende des Jahres 1790 die Plaza de Armas in Mexiko-Stadt. Auf Anordnung des Vizekönigs sollte der Platz im Herzen der Kapitale von Neuspanien eingeebnet und gepflastert werden, um in neuem Glanz zu erstrahlen.

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Ohnehin hatte sich das Gesicht der ehemaligen Aztekenhauptstadt, seit den Tagen, als der Ort noch Tenochtitlán hieß, stark gewandelt. Auf einer Insel inmitten des Texcoco-Sees war 1325 das Zentrum des aufstrebenden Aztekenreichs gegründet worden. 200 Jahre später stürmten die Spanier die Metropole, erkoren sie zu ihrer eigenen Hauptstadt und errichteten bald darauf an Stelle der zentralen Tempelanlage einen Palast für den Vizekönig sowie eine Kathedrale.

Am 17. Dezember 1790 waren die Baumaßnahmen auf der Plaza de Armas bereits in vollem Gang, als ein überraschender Fund die Arbeiten zum Stillstand brachte. Knapp unter der Erdoberfläche waren zwei kolossale Steinmonumente der Aztekenzeit zum Vorschein gekommen: die zweieinhalb Meter hohe Statue einer von Schlangenköpfen bekrönten Göttin und ein gigantischer Steinblock, von dem eine Fratze inmitten eines Ringornaments die erstaunten Arbeiter anstarrte.

Zeichnung des "Sonnensteins" | Als Erster veröffentlichte 1792 der mexikanische Historiker und Astronom Antonio de Léon y Gama eine Untersuchung zu dem "Sonnenstein". In seinem Heimatland gilt er als Archäologe der ersten Stunde. Grün umrandet ist die Hieroglyphe olin, blau der Ring mit den 20 Monatstagen, rot die beiden Feuerschlangen und gelb das Datum der Anfertigung.

Spätestens seit der Astronom und Historiker Antonio de Léon y Gama 1792 eine umfassende Untersuchung dieses Monolithen veröffentlichte, schenkte ihm auch die Gelehrtenwelt besondere Aufmerksamkeit. De Léon vermutete, dass das einzigartige Steinmonument kultische Bedeutung besaß und Auskunft über die Zeitrechnung der Azteken gebe. Überdies benannte er die zentrale Figur als Sonnengott Tonatiuh. "Stein der Sonne" oder "Kalenderstein" setzten sich bald als Namen für den Koloss durch.

Denn mit rund 24 Tonnen und einem Durchmesser von zirka 3,6 Metern besitzt der Basaltblock monumentale Ausmaße. Seine Oberseite ziert eine komplexe Darstellung in akkurater Steinmetzarbeit, die, den Farbresten nach zu urteilen, ehemals bunt bemalt war. Im Zentrum ist eine Göttergestalt mit herausgestreckter, messerförmiger Zunge abgebildet. Sie breitet beide Arme zu den Seiten aus und umgreift mit ihren Klauen menschliche Herzen.

Anders als der Rest des Scheibenreliefs ist das Göttergesicht beschädigt worden – offenbar hatten die spanischen Eroberer 1521 den Sonnenstein auf dem Tempelgelände von Tenochtitlán umgestoßen, zerschlugen aber zuvor noch das zentrale Bild. De Léon glaubte, trotzdem noch einen waagrechten Nasenstab zu erkennen, wie er für den Sonnengott Tonatiuh typisch ist – seit den 1970er Jahren sind sich jedoch die meisten Forscher einig, dass de Léon irrte.

Sonnen- oder Erdgottheit?

Der Völkerkundler Ulrich Köhler von der Universität Freiburg beispielsweise deutet die messerähnliche Zunge, die Ohrgehänge und gefletschten Zähne als Merkmale der Erdgöttin Tlaltecutli. Diese bildet in der aztekischen Vorstellungswelt das Zentrum der Erde, wo sie des Nachts die Sonne in ihrem Nabel verborgen hält. Wie es ihre unheimliche Fratze andeutet, übernahm Tlaltecutli unter den Aztekengöttern die Rolle einer Tod und Zerstörung bringenden Gottheit, die nach Blutopfern verlangte.

Auf dem "Sonnenstein" reihen sich eine Pyramide und vier rechteckige Felder um ihr Gesicht. Die Umrisse dieser Elemente bilden eine aztekische Hieroglyphe: olin, "Erdbeben" oder "Bewegung" (siehe Bild unten). Zusammen mit den vier Punktsymbolen zu den Seiten der Klauen ergibt sich eine Datumsangabe, die als vier olin zu lesen ist, der vierte Tag des Zeitalters der "Bewegung". In der Vorstellung der Azteken hatte die Welt bereits vier Epochen oder "Sonnen" von je 52 Jahren durchlaufen. Und jede ging in einer Katastrophe unter und zwar stets am vierten Tag, wie es auch am "Sonnenstein" angezeigt ist: Rechts über der Erdgöttin steht das Zeichen für die älteste Epoche des "Jaguars" umgeben von vier Punkten. Gegen den Uhrzeigersinn folgen die "Windsonne", die "Regensonne" und die "Wassersonne". Die fünfte Ära ist olin, die durch Erdbeben zu Grunde gehen würde.

Nach Ansicht der Kunsthistorikerin Cecelia F. Klein von der University of California in Los Angeles ein sinnfälliges Arrangement: "Die Azteken unterteilten Raum und Zeit in Segmente, die den Himmelsrichtungen entsprachen. Diese sind als Zyklus angeordnet, der von Osten nach Norden, also von Sonnenaufgang und Mittag, bis in den Westen, Süden und die Mitte reicht – Letztere sind gleichgesetzt mit Sonnenuntergang, Nachthimmel und Tod." Da das Zeichen olin in der Mitte steht und dort gewissermaßen auf die Erdgöttin trifft, deutet der "Sonnenstein" die zu erwartende Zerstörung der fünften Epoche an. Um das Schlimmste abzuwenden, führten die Azteken verschiedene Opferrituale durch – und womöglich stand auch der "Sonnenstein" im Zentrum derartiger Zeremonien.

Im Zyklus der Zeit

Das Bildensemble im Zentrum des "Sonnensteins" fasst ein Ring mit 20 Feldern ein. Sie stehen stellvertretend für die Tage eines Monats. Daran schließen sich weitere Kreisornamente an, die in regelmäßigen Abständen von Dreiecken unterbrochen werden – Forscher interpretieren sie als Sonnensymbol. Den äußeren Rand bilden zwei Feuerschlangen, so genannte Xiuhcoátls, aus deren Schlund jeweils ein menschlicher Kopf hervorlugt. Sie symbolisieren den Lauf der Sonne und die 24 Stunden eines Tages. An der Oberseite der Scheibe stoßen ihre Schwanzspitzen an ein Hieroglyphenzeichen. Dieses nennt das Jahresdatum "13 Rohr" – oder nach unserer Zeitrechnung 1427. Zu jener Zeit regierte König Axayacatl. Unter ihm eroberten die Azteken 37 Städte in der Region und konnten damit ihre ohnehin schon unbestrittene Machtstellung auf der Landbrücke Mittelamerikas weiter ausbauen.

Im 15. und 16. Jahrhundert befand sich der "Sonnenstein" im Tempelbezirk von Tenochtitlán. Auf dem Sakralgelände mit einer Seitenlänge von zirka 500 Metern standen insgesamt 78 Gebäude, von denen der Huei Teocalli, der Templo Mayor, das zentrale Heiligtum bildete. Wie es mehrere Grabungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts zeigten, führten Freitreppen zu zwei Kultstätten auf der Tempelpyramide. Davon war die eine dem Kriegsgott Huitzilopochtli geweiht, die andere der Regengottheit Tlaloc. Und im direkten Umfeld des Tempelbaus könnte auch der "Sonnenstein" seinen Platz gefunden haben.

Geschenktipp aus dem Verlag:

Buchcover "Was wir immer schon geahnt haben, aber nicht so recht in Worte fassen konnten, seziert "Titanic"-Kolumnist Max Goldt bis ins absonderlichste Detail: sei es, dass ein Tortenstück von seiner biologischen Natur her kein Seiltänzer ist und deshalb auf einem Tortenheber leicht ins Schlingern gerät. Sei es, dass die meisten Partygäste im Badezimmerschrank des Gastgebers herumschnüffeln und Minuspunkte verteilen, wenn sie dort auf Medikamente gegen Fußpilz oder Inkontinenz stoßen. Das wortgewandte Plaudern über solcherlei Alltagsbeobachtungen beherrscht niemand meisterlicher als Goldt in seinen launigen Kolumnen."

Foto Mitarbeiter


Christiane Gelitz, Redakteurin


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